| # taz.de -- Ausstellung über Punk in Stuttgart: I don’t kehr | |
| > Prolls mochten früher die Artschool. Das und vieles mehr zeigt die | |
| > Ausstellung „Wie der Punk nach Stuttgart kam & und wo er hinging“. | |
| Bild: Krawallschwaben auf der Treppe am Stuttgarter Schlossplatz, circa 1982 | |
| Lässt sich das intensive Leben im Nachhinein dokumentieren? Uli Schwinge, | |
| Betreiber des Verlags Edition Randgruppe und Kurator der Ausstellung „Wie | |
| der Punk nach Stuttgart kam“, hat mitten in den Württembergischen | |
| Kunstverein eine „Pogobox“ aus Grobspanplatten bauen lassen. Darin kann | |
| man unter anderem zu der Deutschpunknummer „Stuttgart Kaputtgart“ von Ätzer | |
| 81 adoleszente Rempeleien re-enacten. | |
| Der Refrain „Stuttgart Kaputtgart / alles ist kaputt dort“ mag Anfang der | |
| achtziger Jahre zur apokalyptischen Grundstimmung gepasst haben, im | |
| durchdesignten 21.-Jahrhundert-Stuttgart ruft er eine vage Melancholie auf. | |
| Auf dem Kleinen Schlossplatz um die Ecke, [1][wo sich vor Jahrzehnten Punks | |
| und Waver auf Betontreppen trafen], steht seit einigen Jahren ein | |
| blitzblanker Museumskubus. Und mit Stuttgart 21 geht das stadtpolitische | |
| Großreinemachen weiter. Auf dem Ankündigungsposter prangt denn auch der | |
| alte Bahnhofsturm als nostalgische Reminiszenz. | |
| Ursprünglich war nur ein Buch geplant, der Musiker Simon Steiner hat dafür | |
| über 100 Interviews mit Zeitzeugen geführt. Doch kaum hatte Steiner einen | |
| Blog zu seinem Crowdfunding-Projekt geschaltet ([2][stuttgartpunk.de]) kam | |
| die Schwarmintelligenzlawine ins Rollen. Protagonisten von damals meldeten | |
| sich, öffneten ihre Archive, posteten Fotos und Anekdoten. Eine | |
| Ausstellung war der naheliegende Schritt, das Label Incognito Records | |
| stellte außerdem zwei Compilations mit Bands von damals zusammen. | |
| ## Exponate auf Paletten | |
| Im Württembergischen Kunstverein lassen sich Kapitel des Buchs an einer | |
| Wandtapete abschreiten. Um nicht ein Geschmäckle von Musealisierung | |
| aufkommen zu lassen, wurde für die Exponate auf Vitrinen verzichtet. | |
| Stattdessen dienen aufgebockte Holzpaletten als Displays, hinter | |
| sogenanntem Hasendraht sind darauf Fanzines, Platten, Badges, Klamotten und | |
| Comiczeichnungen platziert. | |
| Ein besonders schönes Exponat ist die vom Videoregisseur Zoran Bihać für | |
| die Frauenpunkband Frauenklinik besprühte Bäckerjacke. Und aus dem Archiv | |
| der „SOKO Stuttgart“ wird eine Sammlung selbstgebastelter Waffen | |
| präsentiert, die Ordnungswächter bei Punks sichergestellt haben. | |
| Durch den Erfolg der aus Stuttgart stammenden Die Fantastischen Vier galt | |
| die Stadt musikalisch als ewige HipHop-Dependance, neuerdings reihen sich | |
| aber junge Bands wie Die Nerven, Human Abfall oder Karies bewusst in eine | |
| lokale Punktradition ein. Die Nerven haben sogar eine Coverversion von | |
| „Stuttgart Kaputtgart“ eingespielt. „Wie der Punk nach Stuttgart kam …�… | |
| offenbart selbst dem notorisch Schwabophoben, dass im Stuttgarter | |
| Speckgürtel rund um das Jahr 1980 eine beeindruckende subkulturelle | |
| Vielfalt herrschte. | |
| ## Von Chaos Z bis Familie Hesselbach | |
| Chaos Z und Normahl sind anerkannte Größen des Deutschpunks, die Tübinger | |
| Kassettenszene rund um die [3][No-Wave]-Band Familie Hesselbach wurde | |
| damals ausgiebig von der Presse hofiert. Selbst Ar/Gee Gleim, Hoffotograf | |
| im Düsseldorfer Ratinger Hof, reiste an, um Gigs von Stuttgarter | |
| Postpunk-Bands abzulichten. Die ersten Punk-Events fanden in der | |
| Normahl-Heimat Winnenden statt, erst später wurden Auftrittsorte wie die | |
| Mausefalle oder die Tangente zu innerstädtischen Anlaufstellen. | |
| Schwäbische Punkgeschichte belegt somit eine These des britischen | |
| Subkulturchronisten Jon Savage: Punk und Postpunk kamen aus der Peripherie. | |
| Im Ländle begegnete man dem mit ironischem Sendungsbewusstsein und | |
| veranstaltete 1983 in der Mausefalle das Postpunk-Festival „Schwabesäkel | |
| International“. Wahrscheinlich ist die Entfernung zu den Szenezentren | |
| verantwortlich für einen erfreulichen Perspektivwechsel, der „Wie der Punk | |
| nach Stuttgart kam …“ von anderen Ausstellungen über Punk in Deutschland | |
| unterscheidet. | |
| Während nämlich die Ausstellung zu Jürgen Teipels Oral History „Verschwende | |
| deine Jugend“ in der Düsseldorfer Kunsthalle (2002) oder die vom | |
| Goethe-Institut seit einiger Zeit auf Reisen geschickte „Geniale | |
| Dilletanten“-Schau Punk und die Folgen aus einer engen | |
| Artschool-Perspektive in einen Avantgarde-Kanon einschreiben, werden hier | |
| neben künstlerisch wertvollen Postpunk-Entwürfen die allzu gern | |
| verleugneten „proletarischen“ Anteile von Punk offengelegt. | |
| ## Mehr als Dada mit anderen Mitteln | |
| Punk war eben nicht bloß Dada mit anderen Mitteln, wie es uns eine | |
| domestizierende Geschichtsschreibung weiß machen will, und eben auch kein | |
| reines Kunsthochschul-Ding. Wenn man schon mit kunsthistorischen Kategorien | |
| arbeiten will, dann folgten die im Jugendzentrum gegründeten Normahl | |
| genauso wie Chaos Z und Ätzer 81 eher einer Art-Brut-Ästhetik. | |
| Durch die Würdigung des ästhetisch „minderen“ Streetpunk ist „Wie der P… | |
| nach Stuttgart kam …“ mehr als eine weitere regionale Ausfaltung deutscher | |
| Punkgeschichte aus West oder Ost. Im Begleitprogramm treten unter anderen | |
| Normahl (unplugged!) sowie die Böblinger Band Herbärds auf – eine der | |
| ersten deutschen Oi-Punk-Bands, die auf dem Label Mülleimer Records | |
| veröffentlichte. | |
| Das ist kein ästhetischer Fehlgriff, sondern historisch gerecht: Während | |
| sich die Punk-Ursuppe in Städten wie Hamburg alsbald in eine Lederjacken- | |
| und eine Anzugfraktion entmischte, konnte man sich Feindschaften in der | |
| Enge des Stuttgarter Kessels kaum leisten. Als gebürtiger Stuttgarter | |
| erinnere ich mich an ein Familie-Hesselbach-Konzert, bei dem Oi-Skins und | |
| Knobelbecherpunks freundlich zugeneigt pogten. In Hamburg hätte es wohl | |
| Speichel und Bier auf die Bühne geregnet. | |
| ## Reise nach London | |
| Auf die im Titel angesprochene Ursprungsfrage gibt es eine Antwort. Ein | |
| gewisser Dan Peter war es, der 1976 während einer Londonreise mit den | |
| Eltern die damals neue Jugendkultur aufschnappte und auf unsicherer | |
| Datenbasis die erste lokale Punkband gründete. Eine dialektische Wendung | |
| wollte es, dass Peter heute evangelischer Kirchenrat ist und damit | |
| Repräsentant eben jener protestantischen Arbeitsethik, gegen die Punk in | |
| der Kehrwochenstadt mehr aufbegehren musste als irgendwo sonst. Die | |
| kalauernde Aneignung des nihilistischen Punkslogans „I don’t care“ darf an | |
| der Wandtapete im Württembergischen Kunstverein deshalb nicht fehlen: „I | |
| don’t kehr“. | |
| 22 Sep 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ausstellung-ueber-Punk-in-Stuttgart/!5449334 | |
| [2] http://stuttgartpunk.de | |
| [3] /Nachruf-auf-No-Wave-Saengerin-Cristina/!5673474 | |
| ## AUTOREN | |
| Aram Lintzel | |
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