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# taz.de -- Kulturkritiker über das Jahr 1966: Die Explosion des Pop
> Der Brite Jon Savage beschreibt, wie sich vor fünfzig Jahren ein
> subversiver Urknall ereignete. Besonders gelungen sind die Kontraste.
Bild: Bambule Mitte der Sechziger: Britische Polizisten führen in Brighton jug…
My name is Bill and I’m a headcase / They practice making-up on my face“,
heißt es in dem Song „I’m a Boy“ von The Who, veröffentlicht im August
1966, vor bald 50 Jahren. Die Musik ist aufbrausend, der Gesangsvortrag
schnoddrig und renitent wie kaum ein Song zuvor. Typisch für das Jahr
seines Erscheinens, schreibt Jon Savage in seinem neuen Buch „1966“. In ihm
verdichtet der britische Autor die „Swinging Sixties“ zu einer
eigenwilligen Chronologie eines für ihn entscheidenden Jahres.
„1966 hat mich vor allem wegen seiner Musik in den Bann gezogen“, schreibt
Savage im Vorwort. „Was aus ihr herauszuhören ist: Beschleunigung und eine
ganz neue Zielstrebigkeit.“ Pop wurde nicht erst in jenem Jahr erfunden,
die Beatles waren schon drei Jahre zuvor zu Weltstars geworden. Aber nun
erschienen auch anspielungsreiche und musikalisch vielfältige Songs der
Rolling Stones, von The Who, von den Kinks, von Bob Dylan und zahllosen
anderen angloamerikanischen Künstlern. Insgesamt, so schreibt Savage,
agierten sie abgebrühter, medienbewusster und letztendlich
selbstbestimmter.
Jedem Monat des Jahres 1966 widmet Savage ein Kapitel. Darin beginnt er
jeweils mit der Analyse eines Songs, etwa „I’ll be your mirror“ von den
Velvet Underground (Juni) und „Land of 1000 Dances“ des US-Soulsängers
Wilson Pickett (Juli).
„1966“ ist Kulturgeschichte, abgeleitet aus der Popmusik eines Jahres, das
Savage als turbulent und ereignisreich empfindet: In Vietnam kämpfen
350.000 GIs, in den USA besteht allgemeine Wehrpflicht und unter jungen
Männern herrscht die Angst vor der Einberufung, während in Großbritannien
die unbestimmte Furcht vor einem Atomkrieg grassiert. Aus der britischen
Antiatombewegung CND speist sich ein Widerstandsgeist, der auch in den
Popsongs jener Zeit auftaucht.
## Gesellschaftliche Schieflagen
Savage vergisst dabei nie, gesellschaftliche Schieflagen zu schildern:
Ausführlich berichtet er von der Homophobie, der der schwule
Beatles-Manager Brian Epstein ausgesetzt war. Oder von dem konservativen
Backlash, beginnend mit der Wahl Ronald Reagans zum kalifornischen
Gouverneur im Oktober jenes Jahres. Dennoch, 1966 nimmt vieles vorweg, was
sich dann 1967 und 1968 weltweit manifestieren sollte: Jugendrevolte,
Frauenbewegung und Black Power.
Mit der Faszination für die Musik des schwarzen Amerika erklärt Savage auch
die Schärfe von The Who. Ihr Song „I’m a Boy“ klingt auch deshalb so
unversöhnlich, weil die britische Jugendbewegung der Mods, zu der sich The
Who zählen, Mitte der Sechziger von der Gesellschaft als Bedrohung
wahrgenommen wurde: bedröhnte junge Leute, die zu Soulsongs tanzen und sich
einen Dreck um Konventionen scheren.
## Speed und Make-up
Savage bezeichnet die Mods als „die wirkmächtigste Subkultur“ jener Zeit.
Das kommt nicht von ungefähr. „Von der autoritären Staatsmacht ging eine
negative Energie aus, die unsere Kreativität einzudämmen versuchte“,
erklärt Pete Townsend in Savages’ Buch. Der Gitarrist von The Who und
Komponist von „I’m a Boy“ führt aus: „Mädchen und Jungs mit Make-up, …
Speed nahmen, hielten Erwachsene 1966 für nicht hinnehmbar.“
Sein Songtext handelt von einem Schüler, den seine Mutter zwingt,
Mädchenkleidung zu tragen. Der Plot des Songs wendet sich direkt gegen die
Verstörung, die die Androgynität der Mods in der britischen Gesellschaft
der Sechziger hervorruft, analysiert Jon Savage und belegt dies mit einem
Zitat von John Entwistle, Bassist von The Who: „Unsere Songs sind absolut
unromantisch. ‚I’m a Boy‘ ist schon fast queer.“
1966 warf der Zweite Weltkrieg noch immer seine Schatten auf
Großbritannien. Der Sieg gegen Hitlerdeutschland wurde gesellschaftlich
teuer bezahlt: Die Entbehrungen und Verletzungen der Kriegsgeneration
färbten auf die nach 1945 Geborenen ab, bilanziert Savage. Auch der
aggressiv zur Schau gestellte Konsum von Mode, Pillen und Pop der Mods sei
eine Reaktion darauf gewesen. Viele andere Spuren und Hinweise verfolgt Jon
Savage in den Songs jenes Jahres: Aufforderungen, Drogen auszuprobieren,
erwachendes schwarzes Selbstbewusstsein und emanzipative Bestrebungen
junger Frauen.
Es war Frauen noch nicht möglich, ohne Einwilligung des Ehemannes oder des
Vaters ein eigenes Bankkonto zu eröffnen. „Frauen galten in Großbritannien
und den USA als Bürger zweiter Klasse“, schreibt Savage. 1966 sind bereits
veränderte Rollenbilder hörbar, wahrnehmbar in der Musik junger Frauen, die
in jenem Jahr vermehrt erscheint. Etwa Songs von Dusty Springfield und der
surreale Folkpopsong „Walkin’ a Cat named Dog“ der US-Künstlerin Norma
Tanega: In ihm zeigte sich ein neues weibliches Selbstbewusstsein schon
allein darin, dass sie sich „einfach nur wohl in ihrer Haut fühlte“.
## Nachwirkung bis heute
Jon Savage ist spätestens seit seiner Geschichte des britischen Punk,
„England’s Dreaming“ (2000), ein Solitär unter den englischsprachigen
Popjournalisten. Seine Qualitäten als Enzyklopädist sind bekannt seit
seinem gemeinsam mit dem Schriftsteller Hanif Kureishi herausgegebenen
Reader „The Faber Book of Pop“ (1995), einer Anthologie des
angloamerikanischen Popjournalismus. „1966“ vereinigt nun die
mannigfaltigen Interessen des 62-Jährigen: Einerseits fußt sein Buch auf
Interviews mit Zeitzeugen. Ausschnitte daraus fließen in die Erzählung und
ergänzen die Recherche. Andererseits hat Savage viel Zeit in Archiven
verbracht: Zeitungsartikel, Musikmagazintexte, Fernsehsendungen und Filme
hat er gesichtet und auch wenig bekannte Fakten zusammengetragen.
Wie ein Kameramann, der mit seinem Arbeitsgerät verschiedene Einstellungen
erzeugen kann und unterschiedliche Perspektiven liefert, Nahaufnahmen oder
Panoramabilder aus der Distanz, zoomt sich Savage unterschiedlich nah an
seinen Untersuchungsgegenstand. Auch wenn dem Pop-Afficionado einzelne
Songs und Begebenheiten bereits bekannt sein mögen, so liefert Savage dazu
immer neue Bezugsrahmen und andere Settings.
Gelungen sind besonders die Kontraste. Im November-Kapitel widmet sich
Savage ausführlich dem Beach-Boys-Song „Good Vibrations“ und dessen
meisterhafter, dem Genie von Brian Wilson geschuldeter Kompositionsarbeit.
Gleichzeitig beschreibt er die zunehmende Obdachlosigkeit junger Frauen in
Großbritannien, öffentlich gemacht durch das BBC-Dokudrama „Cathy Comes
Home“.
Der Untertitel von „1966“ spricht eine Wahrheit aus: „The year the Decade
exploded“. Jon Savage zeigt in seinem Buch anschaulich, wie sich im Pop
jenes Jahres ein kreativer Urknall ereignete, der breite
Gesellschaftsschichten erfasste und bis heute nachwirkt.
1 Jan 2016
## AUTOREN
Julian Weber
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