# taz.de -- Frank Witzels BRD-Roman: Tristesse und RAF | |
> Ein Aufwachsen in den 60ern und 70ern, das Leben in kleinstädischer | |
> Lethargie. In seinem Roman wirft Witzel Wahn und Wirklichkeit | |
> durcheinander. | |
Bild: Kreisverkehr in München, 1970. | |
Die alte Bundesrepublik? Das war doch das Land, in dem die Achtundsechziger | |
dafür kämpften, dass ihren Kindern beim Playmobilspielen der Glaube an eine | |
bessere Zukunft abhanden kam. Vollbeschäftigung und Voltigieren, soziale | |
Marktwirtschaft und „Wetten, dass ..?“ | |
Wenn es stimmt, dass sich jede Zeit in der Mythologie ihrer jüngeren | |
Vergangenheit bespiegelt, dann bespiegelte sich die Berliner in der | |
Harmlosigkeit der Bonner Republik. Politisch unpolitisch und ästhetisch | |
unergiebig: Wer von der neuen Hauptstadt aus die alten Bundesländer | |
bereiste, wurde den Eindruck nicht los, in einer von der Geschichte | |
abgehängten Provinz zu sein. Dabei konnten selbst Ostdeutsche ein Gefühl | |
von fader Vertrautheit empfinden. Immerhin befand man sich | |
verfassungsrechtlich wie volkswirtschaftlich nach wie vor in diesem Staat. | |
Das Monopol auf Nostalgie und Aufarbeitung, ja auf Historizität hatte nach | |
der Wende die DDR inne: ein versunkenes Land in Orwo-Color-Tönen, in dem | |
vieles anders und nicht alles schlechter als im wiedervereinigten | |
Deutschland gewesen war. | |
Es wäre interessant, die Etappen nachzuzeichnen, in denen sich die | |
Historisierung der BRD vollzog. Erst durch Hartz IV nach der | |
Jahrtausendwende nahm auch die Alltäglichkeit des alten Westens | |
nostalgische Züge an. Im Gegensatz zur krisenhaften globalen Ökonomie | |
repräsentierte sie einen Kapitalismus, der noch solidarisch funktionierte | |
und den erwirtschafteten Reichtum allen zugute kommen ließ. | |
Die Historiker attestierten der Bundesrepublik, eine „geglückte Demokratie“ | |
gewesen und mit den Jahren „im Westen“ angekommen zu sein. Derweil wurden | |
ihre politischen Schlüsselmomente von Lengede bis Mogadischu als | |
pädagogisch wertvolle Fernsehstoffe inszeniert. | |
## In einem fremden Land | |
Die Bestandsaufnahme ihrer zivilisatorischen Errungenschaften scheint bis | |
auf Weiteres abgeschlossen. Folgt jetzt die Romantisierung der BRD? In | |
jüngster Zeit stößt man öfter auf Reminiszenzen, die hinter dem | |
Gewöhnlichen das Bizarre und hinter dem Alltag das Geheimnis suchen. | |
Vermutlich ist das nur eine weitere Etappe auf dem Weg historischer | |
Distanzierung: Nach zögerlicher Stilisierung verwandelt sich | |
Westdeutschland allmählich in ein fremdes Land. | |
Was verbargen die abwaschbaren Kachelfassaden der Kölner | |
Nachkriegsarchitektur? Reichte die schwarze Pädagogik der Nazis nicht viel | |
tiefer als bisher angenommen in die Nachkriegszeit hinein? War der | |
westliche Teil Deutschlands mit seinen konfessionellen Milieus zumindest in | |
ländlichen Regionen nicht überhaupt viel archaischer als die säkulare DDR? | |
Entlang solcher Fragen artikuliert sich ein neues historisch-ästhetisches | |
Interesse. Vor kurzem war die größte Tennisanlage der alten Republik in | |
Keferloh bei München in einer Fotoreportage zu sehen. Die siebzig Plätze, | |
auf dem Höhepunkt des Becker-Booms gebaut und in ihren besseren Tagen einen | |
Eintrag im „Guinnessbuch der Rekorde“ wert, sind heute halb verfallen und | |
mit moosigen Plastikplanen abgedeckt. | |
Ein bisschen schauen wir so im Moment gerne auf die ganze BRD zurück. | |
Hinter jeder Hecke könnte, wie bei David Lynch, ein haariges Monster zum | |
Vorschein kommen. Auf der Suche nach dem öffentlich-rechtlichen Gesicht der | |
Epoche tendieren wir nicht mehr zu dem biederen Frank Elstner, sondern zu | |
dem unheimlichen Eduard Zimmermann. | |
## Nicht fürs Weihnachtsgeschäft geeignet | |
Mit seinem Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen | |
manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ hat es Frank Witzel in diesem | |
Jahr auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Sein Buch führt | |
die RAF im Titel, ist für das Weihnachtsgeschäft schon deshalb nicht | |
geeignet und noch aus zwei oder drei anderen Gründen ein überraschender | |
Kandidat. | |
Dass es [1][seit seinem Erscheinungstermin im Frühjahr dennoch von der | |
Kritik gefeiert wird], muss mit unserem Geschichtsgefühl zusammenhängen: | |
Mit seinem 800-Seiten-Epos empfiehlt sich der Autor nämlich als James | |
Ellroy des BRD noir. Seine alte Bundesrepublik ist so kaputt wie Österreich | |
und mindestens so abgründig wie Kalifornien. | |
Seine Schilderung einer Kindheit und Jugend im Hessen der sechziger und | |
siebziger Jahre schüttelt Wahn und Wirklichkeit durcheinander und malt ein | |
kaleidoskopisches Sittenbild, das von den Eltern über die Mädchen bis zu | |
den Offenbarungen der Popkultur reicht. Doch gelangen die Sixties, in den | |
vom Erzähler favorisierten Beatles verkörpert, nur als fernes Echo nach | |
Wiesbaden-Biebrich. | |
Seine Tagträume sind nicht bonbonbunt, sondern rabenschwarz gefärbt; sie | |
steigern die kleinstädtische Tristesse zu drastischen Fantasien. Witzels | |
hessische Provinz, über der ein gelber Himmel hängt, wimmelt von | |
Vergewaltigern, Mördern und Entführern. Der Katholizismus ist kaum weniger | |
nekrophil als in Neapel ausgeprägt. | |
Zwischen repressiven Erziehungsberechtigten, alten Nazis und angehenden | |
Terroristen sucht man vergeblich nach irgendeiner Normalität. Als eine Art | |
Leitgemüse treiben Futterrüben – auf hessisch „Dickwurze“ – durch die… | |
und Gräben des Romans. Mit ihrem fahlen Weiß und ihren fauligen Runzeln | |
erinnern sie an Kinderköpfe. Der Erzähler malt sich aus, wie es wäre, wenn | |
man ihm die Fingerkuppen abschneiden müsste, weil er mit ihnen im Innern | |
des weichen Kopfes seines toten Baby-Bruders steckenbleibt. Auf dem | |
Pausenhof stünde er mit dem Stotterer und dem Wasserkopf zusammen. Doch | |
wäre er auf der anderen Seite von den Hausaufgaben befreit. | |
## Vererbung des Traumas | |
In der Imagination des Teenagers stellen die Terroristen die größtmögliche | |
Auflehnung gegen Leute wie die Frau von der Caritas dar, die seine kranke | |
Mutter pflegt und seinen stummen Vater mit dem Anblick ihrer | |
Lycra-Strumpfhalter ködert. Da wir uns in seinem kranken Kopf befinden, | |
wird der Kampf zwischen den Guten und den Bösen zugleich zum epochalen | |
Leitmotiv. Witzel dringt in die Atmosphäre einer Gesellschaft ein, die auch | |
nach der Zäsur von Achtundsechzig nicht aufhört, das kollektive Unheil zu | |
beschweigen. Er folgt der Vererbung des Traumas bis zu seiner eigenen | |
Generation, die in den fünfziger Jahren geboren worden ist. | |
Drastik, hat Dietmar Dath geschrieben, ist der ästhetische Rest der | |
Aufklärung, nachdem sie politisch gescheitert ist. Aus diesem Grund ist | |
Witzels drastischer Stil seinem Roman auch keinesfalls äußerlich. Er holt | |
die alte Bundesrepublik nicht als eine Epoche nachholender Modernisierung, | |
sondern als einen Ort der Nachgeschichte aus der Erinnerung zurück. | |
## Geschichte kommt zurück | |
Es ist symptomatisch, dass der Erzähler über die zyklische Natur der Zeit | |
nachdenkt. Seine Welt erscheint auch deshalb so morbide, weil er mit dem | |
Schlimmsten rechnet, obwohl in Wirklichkeit nie irgend etwas Unerwartetes | |
passiert. Wenn überhaupt, dann verdankt sich der Schein von Hoffnung, der | |
über Witzels Wiesbaden liegt, dem Hören von „Rubber Soul“ und dem Lutschen | |
von Haribo-Gummiteufeln. Auch Gudrun Ensslin und Andreas Baader treten | |
folgerichtig nur als Spielzeugfiguren auf. | |
Im Jahr 1946 hatte Gottfried Benn das zerbombte Berlin als überwachsene | |
Ruine beschrieben, die vom Kultur- in den Naturzustand zurückgefallen war. | |
Von Arnold Gehlen bis Francis Fukuyama wurde das Motiv des Posthistoire | |
durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gereicht. Man hat den | |
Eindruck, ihm in jüngeren Epochendeutungen wieder zu begegnen, die den | |
Verlust der Zukunft in einer Kultur der „breiten Gegenwart“ als | |
philosophisches Vermächtnis nicht erst der achtziger Jahre, sondern des | |
langen Nachkriegs ansehen. | |
Vielleicht ist das auch Frank Witzels implizite Diagnose. Vielleicht drängt | |
sich die BRD auch deshalb als historische Vergleichsfolie auf. Denn, wie | |
wir den Nachrichten entnehmen müssen, ist die Geschichte zurückgekehrt. | |
Doch fällt es uns schwer, ein Gefühl dafür zu entwickeln, in welche | |
Richtung sie sich bewegt. | |
9 Oct 2015 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Felsch | |
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