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# taz.de -- Gesprächsband über „BRD Noir“: Die Freiheit der Konsumgesells…
> Der Autor Frank Witzel und der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch
> unterhalten sich über die alte BRD: Es geht um Whisky, Adorno und die
> RAF.
Bild: Kein „noir“: TV-Fahndungsshow „Aktenzeichen XY“
Die Historisierung der alten BRD schreitet voran. Das Unspektakuläre rückt
dabei nun eher in den Vordergrund. Biografien von BRD-Heroen aus Politik
und Kultur gibt es ja bereits einige. Preisgekrönt im letzten Jahr Frank
Witzels überraschender Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch
einen manisch-depressiven Teenager im Jahre 1969“. Witzel, geboren 1955 in
Wiesbaden, erzählt von den Rändern her, von einer Jugend in westdeutscher
Provinz. Von einer Generation, die für die heroische Phase der Revolte von
1968 zu jung war, aber auch nicht alt genug, um sich der neuen Dogmen der
radikalen Linken zu erwehren.
Schon allein biografisch hält Philipp Felsch, Jahrgang 1972, von einer
solchen Perspektive Abstand. Sein ebenfalls 2015 veröffentlichtes Buch „Der
lange Sommer der Theorie“ erinnert aus der Distanz an eine Hochphase des
Kalten Kriegs in Westdeutschland, als der Stellenwert von Geistes- und
Gesellschaftswissenschaften noch ein gänzlich anderer als heute war. Das
Lesen der neuen Franzosen oder der Frankfurter Schule galt damals als
hochpolitische Angelegenheit, an der sich Parteizugehörigkeit oder
Liebesverhältnisse festmachen konnten.
Nun haben sich die beiden, Felsch und Witzel, zu dem Gesprächsband „BRD
Noir“ zusammengefunden. „Du bist der James Ellroy des BRD Noir,“ sagt
Felsch über Witzel. Für Historiker und Kulturwissenschaftler Felsch ist
Witzels Roman „BRD Noir“ schlechthin. Und so spüren die beiden Herren nun
dem spezifisch kulturellen „Aroma“ der alten Bundesrepublik nach. Felsch
ist dabei zumeist der Stichwortgeber, der Einordnende, Witzel der Erzähler,
das authentisch-assoziativ analysierende Subjekt.
Das birgt Stärken, etwa so sie dabei relativ unterhaltsam ihre Sicht auf
die spießige Gesellschaft des deutschen Postfaschismus erklären, ihre
Vorlieben für US-amerikanische Populärkultur, Kriminalromane der „Schwarzen
Serie“ (Chandler, Hammett u. a.) oder Adornos „Minima Moralia“, die, so
Felsch, „wie ein Schlüssel ins Schloss der jungen Bundesrepublik zu passen“
schien. Aber auch Schwächen, so einiges sehr flapsig klingt. „Die RAF
bedingt die Notstandsgesetze, die wiederum die RAF bedingen“, formuliert
Witzel an einer Stelle. Mag sich gut anhören, ergibt aber keinen Sinn. Die
Notstandsgesetze wurden 1968 verabschiedet, die RAF erst 1970 gegründet.
Dennoch, auch wenn sie die Werke der Fauser, Fassbinder, Schygulla oder
Fichte bestenfalls streifen, einen waschechten 80er-Noir-Schriftsteller wie
Jakob Arjouni nicht einmal erwähnen, leuchtet anderes an der kulturellen
Charakterisierung des „BRD Noir“ durchaus ein. Felsch: „Zum Noir gehört …
Freiheit der Konsumgesellschaft, die Kleidung, die Wohnungen, die Bars, in
denen der Held seinen Whisky trinkt.“ Witzel: „Wie du sagst, muss es eine
funktionierende demokratische Gesellschaft als Kulisse geben. Wenn ich
jetzt an den Realsozialismus denke und mir einen Noir-Film vorstelle, der
dort spielt, dann würde ich immer die Bedrohung der Staatsmacht irgendwo
spüren. Beim Noir fehlt die Staatsmacht in dieser Funktion, weil sich
herausstellt, dass Gut und Böse nicht direkt zu unterscheiden sind.“
## Von grau zu schwarz
Dass es in der DDR also kaum die kulturelle Spache des „Noir“ geben konnte,
ist damit definiert, auch dass es im nachfaschistischen Westdeutschland nur
minoritäre Ansätze davon geben konnte. Aber was ist dieses „BRD Noir“ nun
überhaupt? Der Begriff Noir stammt aus der Filmkritik, bezeichnete zunächst
US-Kriminalfilme der Schwarzen Serie der 40er und 50er Jahre. Aber auch ein
Filmregisseur Christian Petzold wurde bereits vor über zehn Jahren mit BRD
Noir in Verbindung gebracht.
Die Autoren Felsch und Witzel tasten sich in Abgrenzung zum Grau des
Nachkriegsdeutschlands ans spezifische Noir heran. Sie thematisieren die
Verdrängungs- und Verklemmungsszenarien einer Gesellschaft im Übergang,
einer BRD, in der die (NS-)Mörder häufig als unbescholtene Bürger galten.
Eine psychotische, maskenhafte Gesellschaft, die sich im Gegenzug und in
permanenter Latenz von „kranken“ Kidnappern, Triebtätern und Serienmördern
bedroht fühlte und medial distanzierte.
Das alte Grau der Felduniformen dominierte, exemplarisch dafür Eduard
Zimmermanns populäre TV-Fahndungsserie „Aktenzeichen XY“. Aber auch
legendäre Krimiserien wie „Derrick“ wurden von ehemaligen Mitgliedern der
Waffen-SS entworfen und in der Hauptrolle auch verkörpert. Diese Kriminaler
konnten die früheren Erfahrungen nicht mit den alten Mänteln ablegen. Im
Mainstream dieser BRD konnte es kein Noir geben.
Die Stärken hat das Gespräch dort, wo die Autoren ihre Behauptungen mit
eigenen subjektiven Erfahrungen unterlegen und etwas von sich preisgeben.
Etwa da, wo Witzel von seinem Vater erzählt und wie er durch den Gang in
die Stadt literarisch sozialisiert wurde, Ende der 60er, Anfang der 70er
Jahre. Das kräftigt Ansätze des Selbstdenkertums. Luft nach oben gibt es
bei der kulturhistorischen Genauigkeit, bei Repräsentanz und Systematik für
das angedachte Genre „BRD Noir“. Aber diesen Anspruch einzulösen hat dieses
Gespräch unter Freunden vielleicht auch gar nicht.
17 Mar 2016
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
## TAGS
Frank Witzel
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