| # taz.de -- Nachruf auf Verleger Jörg Schröder: Puff und Suff gegen Muff | |
| > Jörg Schröder ist gestorben. Der legendäre Verleger und taz-Blogger wurde | |
| > 81 Jahre alt. Sein MÄRZ-Verlag war eine wichtige Stimme der 68-Proteste. | |
| Bild: Vollblut-Verleger: Jörg Schröder und Barbara Kalender 1986 | |
| Die Geschichte dieses literarischen Wirtschaftswunders beginnt 1944. In | |
| einem Berliner Bombenkeller sah ein Fünfjähriger, was Todesangst aus | |
| Menschen machte: Zitternde und Betende. „Für mich war das ein Abenteuer“, | |
| wird sich Jörg Schröder in seiner wahnwitzigen Lebensbeichte „Siegfried“ | |
| erinnern. Bei Erscheinen des Buches, 1972, war er längst | |
| berühmt-berüchtigter Verleger, grafisch denkender Visionär und Bankrotteur, | |
| den die Branche fürchtete, weil für ihn Leben und Literatur, [1][Pop und | |
| Porno], Revolte und Rabaukentum zusammengehörten. | |
| Nach Buchhändlerlehre und Werbefachschule machte Jörg Schröder Anfang der | |
| Sechziger Karriere bei Kiepenheuer & Witsch, dann im Melzer Verlag, den er | |
| mit dem Erotikbesteller „Die Geschichte der O“ sanierte. Er ließ Werke von | |
| [2][Jack Kerouac] übersetzen, sorgte dafür, dass Beatliteratur vom breiten | |
| Publikum wahrgenommen wurde. 1968 war das entscheidende Jahr, er gründete | |
| über Nacht den MÄRZ Verlag. Schon das Layout war sensationell: rote und | |
| schwarze Lettern auf knallgelbem Grund. | |
| „Acid“ hieß die erste, von [3][Rolf Dieter Brinkmann] mit herausgegebene | |
| Anthologie: ein politisch-kulturelles Manifest mit [4][Lyrik] und Essays, | |
| Textmontagen, Porno, Comics und Interviews. Schröder setzte auf | |
| Grenzüberschreitungen, die Proteste verursachten, zudem Schulden, die, wie | |
| der Verleger verriet, auch durch „Suff und Puff“ entstanden. | |
| ## Schlitzohrig, gewieft und radikal | |
| Als Verleger agierte Schröder schlitzohrig, gewieft und radikal | |
| inkonsequent. Bei MÄRZ veröffentlichte er etwa „Die Reise“ von Bernward | |
| Vesper und das zigtausendfach verkaufte Aufklärungsbuch „Sexfront“ von | |
| Günter Amendt. Natürlich ging der Rausch nicht endlos weiter. Es folgten | |
| Herzinfarkte und Pleiten. Schröders literarisches Debüt „Siegfried“ war | |
| dann die wüste Abrechnung mit dem Literaturbetrieb. Bei Auslieferung lagen | |
| acht einstweilige Verfügungen dagegen vor. Jenseits juristischer Konflikte | |
| hatte er damit zur eigenen Literaturform gefunden, die ihn zu einem | |
| wichtigen Erzähler der Bonner Republik machte. | |
| 1982 erschien mit „Cosmic“ wieder ein unglaubliches Schröder-Buch. Es | |
| handelte von geheimen Atomraketen in der Provinz sowie der Verschränkung | |
| von Wahrheit und Lüge in der öffentlichen Meinung. Der Erzähler behauptete, | |
| er habe mit „Cosmic“ die Friedensbewegung initiiert. | |
| Solche Heldentaten hat der sympathische Rechthaber über Jahrzehnte in | |
| seiner Reihe „Schröder erzählt“ beschrieben. Das schrecklich komische | |
| Monumentalwerk, zu dem auch Zeitungskolumnen und [5][Blogeinträge] gehören, | |
| konnte nur entstehen, weil das Erzähler-Ego in Barbara Kalender eine | |
| kongeniale Übersetzerin seiner Verbalvorläufe fand. Schwer vorstellbar, | |
| dass nun eine Hälfte dieses umtriebigen Verlegerpaars fehlen wird. | |
| Jörg Schröder starb, wo er geboren wurde, am Samstag im Alter von 81 Jahren | |
| im Berliner Virchow-Klinikum. | |
| 14 Jun 2020 | |
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| [4] https://www.youtube.com/watch?v=g6O7-2e7Hso&list=PL8FDA3D4F2C730607&… | |
| [5] https://blogs.taz.de/schroederkalender/ | |
| ## AUTOREN | |
| Carsten Otte | |
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