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# taz.de -- Gerichtsberichte aus den 60er Jahren: Stehlen, huren, morden
> Uwe Nettelbeck war ein exzellenter Beobachter. Das zeigen seine
> Gerichtsberichte, die viel über die alte Bundesrepublik erzählen.
Bild: Der Lebach-Mord-Prozess in der Kongresshalle Saarbrücken: die Angeklagte…
Am Wirken der Justiz lässt sich der Gesellschaftszustand ablesen wie an
einem Seismographen. Das Verborgene einer Gesellschaft tritt in das Licht
der Öffentlichkeit. Öffentliche Maßstäbe werden an individuelles Verhalten
angelegt. Der Gerichtssaal gilt als Ort des Gewaltverzichts, in dem die
Konflikte der Gesellschaft verhandelt werden. Die Sprache, die im Gericht
gesprochen wird, offenbart das Verhandlungsklima, das immer auch ein
gesellschaftliches Kräfteverhältnis anzeigt.
Uwe Nettelbecks Gerichtsberichte, die im Band „Prozesse“ versammelt sind,
stammen aus der Sattelzeit der alten Bundesrepublik: 1967 bis 1969. Wer sie
liest, schaut noch einmal der alten Bundesrepublik ins Gesicht. Ihre
Lektüre ermöglicht einen Blick zurück, den die post-festum Wissenschaft der
Zeitgeschichte nicht liefern kann.
Uwe Nettelbeck schrieb nicht für die Tages-, sondern für die Wochenpresse.
Das waren noch Zeiten. Die Printmedien standen in voller Blüte; zugleich
wuchsen die demokratischen Ansprüche an die Medien, eine vierte Gewalt zu
sein.
Der politische Mensch wartete damals noch sehnsüchtig auf den Spiegel am
Montagmorgen und nach der Lektüre geduldig auf die Zeit am Donnerstag. Die
Gerichtsreportagen von Gerhard Mauz im Spiegel waren in der
nachnationalsozialistischen Bundesrepublik zu einer liberalen Institution
geworden.
## Autoritärer Traditionsbestand
Uwe Nettelbeck geht in seinen Berichten, die in der Zeit erschienen, über
den liberalen Horizont hinaus. Er entwirft ein konkretes Bild des
jeweiligen Einzelfalles, wie er vor Gericht verhandelt wird. Der aus dem
Kinosaal geschulte Blick des exzellenten Filmkritikers, als der Uwe
Nettelbeck vor seinen Gerichtsreportagen schon bekannt war, kommt ihm im
Gerichtssaal zugute.
Aus einer Szene oder einem Dialog kann Nettelbeck eine ganze Geschichte
rekonstruieren. Sichtbar wird die alte Bundesrepublik im Umbruch: Der
autoritäre Traditionsbestand hat die legitimatorische
Selbstverständlichkeit verloren, aber eine neue Form für ein
gesellschaftliches Zusammenleben muss noch gefunden werden.
Petra Nettelbeck, die schon seine besten Filmkritiken unter dem Titel
„Keine Ahnung von Kunst und sonst auch wenig vom Geschäft. Filmkritik
1963–1968“ herausgegeben hat, hat auch bei den Gerichtsberichten eine
geschickte Auswahl getroffen. Die explizit politischen Prozesse, der gegen
die Frankfurter Kaufhausbrandstifter und der gegen den Anti-Springer
Demonstranten Christian Boblentz, kommen erst am Schluss, nachdem man die
bundesdeutsche Justiz im Alltag Mitte der sechziger Jahre schon
kennengelernt hat. Spektakuläre Sexualdelikte wie die von Jürgen Bartsch
stehen neben unspektakulären Taten von kleinen Leuten, die in die Mühle der
Justiz geraten.
Georg Büchners alte Frage „Was ist das, was in uns liegt, stiehlt, hurt,
mordet?“ stellt sich in jedem Fall neu. Der Gerichtsreporter verurteilt
nicht, sondern zeichnet auf, was zum Nachdenken Anstoß gibt. Nettelbecks
Kritik an einem Gutachterwesen, das sich ganz in den Dienst der Verfolgung
stellt, erreicht zuweilen die Qualität von Karl Kraus’ „Sittlichkeit und
Kriminalität“. Auch eine allzu selbstgewisse Wissenschaft, vor allem
Psychologie und Psychiatrie, wird vom Berichterstatter in ihre Schranken
gewiesen.
## Mächtige Verlegerfiguren
Nicht nur der Gerichtssaal war damals ein Schauplatz gesellschaftlichen
Wandels, sondern auch die Presse, in der über die Prozesse berichtet wurde.
Die „Gerichtsberichte“ Nettelbecks loten aus, was zum damaligen Zeitpunkt
im „Verkaufsjournalismus“ (Nettelbeck) gegen den Mainstream noch möglich
war.
Mächtige Verlegerfiguren wie Axel Springer, Rudolf Augstein und Gerd
Bucerius schienen das Meinungsbild der Bundesrepublik zu beherrschen. Die
1967 aufkommende antiautoritäre Protestbewegung machte die mediale
Berichterstattung zu einem zentralen Thema. Für Journalisten stellte sich
die Frage der inneren Pressefreiheit.
Der letzte Text des Buches „In eigener Sache“ berichtet von einem Prozess
eigener Art. Nettelbeck begründet süffisant seinen Ausstieg aus der Zeit,
deren Herausgeberaufsicht er sich nicht mehr beugen wollte. Nach einem
kurzen Intermezzo bei Konkret gründete er mit der Republik sein eigenes
Blatt, das er auch als Autor fast drei Jahrzehnte nahezu allein bestritt.
14 Jul 2015
## AUTOREN
Detlev Claussen
## TAGS
Justiz
Buch
Gericht
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