# taz.de -- Die Wahrheit: Ergründer des Ungefähren | |
> Mathias Broeckers, Wahrheit-Redakteur der ersten Stunde, geht in den | |
> Ruhestand. Eine persönliche Würdigung mit quasi offiziellem Gütesiegel. | |
Bild: Pausenzichte mit Zeitung: Mathias Broeckers | |
Mathias Broeckers und Annette Cornelia Eckert waren meine ersten | |
Bezugspersonen in der taz, sie betrieben die überregionale Kulturredaktion. | |
Wenig später hatte ich vor allem mit Mathias zu tun – als sein | |
oberhessischer „Vogelsberg-Korrespondent“. | |
Hin und wieder dachten wir uns Fake-Geschichten oder -Interviews aus. Diese | |
wurden jedoch immer häufiger kritisiert. Zwar veröffentlichten auch andere | |
Redaktionen gelegentlich Fake-Interviews (zum Beispiel mit | |
Atomstrommastenabsägern), aber das geschah aus politischer Notwendigkeit | |
und nicht aus der Überzeugung, dass man die Wahrheit halluzinieren kann – | |
oder gar muss, wie der März-Verleger Jörg Schröder uns im Vogelsberg | |
sozusagen einhämmerte. Witzigerweise bekam Broeckers 1985 gerade dort, in | |
Lauterbach, die „Benno-Martiny-Medaille für sauberen Journalismus“ in | |
Bronze verliehen. | |
Er frühstückte oft mit dem Kabarettisten Wolfgang Neuss im Charlottenburger | |
Café Möhring, notierte sich tagesaktuelle Schlagzeilenergänzungen und | |
kaufte ihm taz-Kolumnen ab. Schließlich hieß es taz-intern: „Fakes ja!“, | |
aber auf einer Extraseite mit eigener Redaktion. Daraufhin gründete | |
Broeckers mit dem Kollegen Karl Wegmann die Wahrheit-Seite – mit quasi | |
offiziellem Satiresiegel. In der taz wurden damals oft Seiten ge- und | |
begründet, andere gingen ein: die Kinder- und die Justiz-Redaktion | |
beispielsweise. Beides war quasi dem Zeitgeist geschuldet, und der weht | |
vordergründig, wohin er will. Ein typisches Tendenzbetriebsproblem. | |
Die aus der antiautoritären Bewegung entstandene taz war zunächst wie jene | |
von „harten Ideologien“ (Antikapitalismus, Klassenkampf, Nationale | |
Befreiungskämpfe) befeuert – analog zum „Stahlinismus“ der vorgeblich | |
„bleiernen“ Nachkriegszeit. Mit Computerisierung und Neoliberalismus | |
setzten sich langsam „weiche Ideologien“ (Menschenrechte, Veganismus und | |
Emos) durch. Und das Proletariat fand sich nach Deng Xiaopings Diktum | |
„Bereichert euch!“ in China wieder. | |
## Schwäche für schnelle Autos | |
Broeckers hatte an der FU Literatur und Politik studiert und dann mit | |
Freunden die erste Genossenschaft nach dem Krieg gegründet: die Kreuzberger | |
Taxi-Genossenschaft. Daher erklärt sich vielleicht eine gewisse Schwäche | |
für schnelle Autos; der er als Kultur- und Wahrheit-Redakteur mit | |
„taz-Einheitslohn“ und Kleinfamilie natürlich nicht nachgeben konnte. | |
Inzwischen ist er als Single auf E-Bike umgestiegen. | |
„Entnervt von den ständigen Grabenkämpfen“, wie Kollege Wegmann einmal in | |
einem Jubiläumsartikel zur Geschichte der Wahrheit schrieb, kündigte er und | |
gab ein Lehr- und Geschichtsbuch über Hanf heraus. Nach der 38. Auflage | |
konnte er mit Freunden das „Hanfhaus“ gründen – mit Franchisingsystem f�… | |
Hanfläden. Das Unternehmen ging pleite, weil man angeblich bei griechischen | |
Lieferanten von Hanfsachen winzige Mengen THC festgestellt und die Ware | |
konfisziert hatte. So ungefähr. | |
Dann erfuhr ich, dass er und seine Frau, Rita, die ihn – wenn nötig – zur | |
Radikalität und Eindeutigkeit drängte, sich getrennt hatten und dass ihre | |
zwei Kinder nun erwachsen und auf einem guten Weg seien. Ferner, dass er | |
und der Comiczeichner Gerhard Seyfried, mit dem er das Buch „Hanf im Glück“ | |
veröffentlichte, in die Schweiz gezogen wären. Wovon sie in dem teuren Land | |
lebten, war uns schleierhaft. | |
Auf alle Fälle traf sich Broeckers oft mit dem Schweizer LSD-Erfinder | |
Albert Hofmann. Zu dessen 100. Geburtstag veröffentlichte er auch ein Buch. | |
Zuvor hatte er bereits ein Werk über die klassischen „Haschisch-Esser“ | |
bevorwortet und eins über Absinth mit herausgegeben. Als er mit einem | |
Kofferraum voller Exemplare seines Buches „Die Drogenlüge“ an der Schweizer | |
Grenze durchsucht wurde, machte das die deutschen Beamten neugierig, sie | |
fanden auch tatsächlich ein Stück Haschisch, nur ein paar Gramm, aber | |
Broeckers verlor trotzdem für einige Zeit seine Fahrerlaubnis. | |
Vielleicht war es in dieser Zeit, dass er sich als Medien-Aficionado mit | |
dem Internet anfreundete, heraus kam dabei ein Buch über den | |
Elftenseptember, dessen Quellen fast ausschließlich aus Internetforen und | |
-blogs bestanden, man könnte von einer E-Recherche als Book sprechen. Heute | |
ist das üblich, aber damals war es etwas Neues. Das Buch wurde jedenfalls | |
„in hohen Auflagen“ verkauft, wie der Autor das Wikipedia-Eintrags | |
säuerlich anmerkt. | |
Die Nutzung der Webpages über Nineeleven bedeutete implizit, dass die | |
staatsttragenden Intelligenzblätter (der „Holzjournalismus“) keine | |
Diskussion über das World-Trade-Center-Attentat wollten. Erst recht galt | |
das für die Aufklärung des „Kennedy-Mordes“, worüber er dann ebenfalls e… | |
Buch schrieb, diesmal gestützt vor allem auf Veröffentlichungen von | |
sozusagen offiziellen US-Autoren. Langsam glaubte man, ihn gut und gern als | |
„Verschwörungstheoretiker“ abtun zu können, zumal er auch noch das „Lex… | |
der Verschwörungstheorien“ von Robert Anton Wilson übersetzt und mit | |
Beispielen aus dem deutschen Verschwörungsraum ergänzt hatte. | |
## Verschwörungstheorien im Überblick | |
Als Broeckers dann auch noch ein Buch über den „Fall Ken Jebsen“ schrieb | |
und ein weiteres, in dem er als „Putinversteher“ auftrat, war der Fall | |
klar. Um aber wenigstens diejenigen seiner Follower, die sich als | |
Klimaleugner aufdrängten, abzuschütteln, stürzte der „Bestsellerautor“ (… | |
sein Verlag Westend) sich in die Naturwissenschaft, die er bis dahin eher | |
an ihren ketzerischen Rändern wahrgenommen hatte. | |
Nun ging es ihm um die unterschiedlichen Lichttheorien von Newton und | |
Goethe. Weil sich darüber auch Philosophen der Humboldt-Universität | |
Gedanken machten, musste das Ergebnis einigermaßen stimmen – es hieß dann | |
2019 im Titel „Newtons Gespenst und Goethes Polaroid“. Dem folgt nun eins | |
über den „Klimawandel“ – mit dem Untertitel „Vom Ende des Kaputtalismu… | |
der Zuvielisation“. | |
Ich vergaß zu erwähnen, dass Broeckers seit vielen Jahren wieder für den | |
taz-Verlag arbeitet. Er war auf verschiedene Weise am Aufbau des | |
sogenannten Internetauftritts der taz beteiligt, woraus eine ganze | |
Abteilung entstand. Er hat sich in der taz irgendwie auf ihre | |
Internetvermarktung konzentriert oder jedenfalls nimmt er an der | |
montäglichen „Marketingrunde“ teil. Mit zunehmendem Alter lässt ihn das | |
Geschäftliche immer weniger kalt. Daneben ist er noch „Blogwart“ – für … | |
taz-blogs. | |
Wenn wir uns „beim Italiener“ in der Reichenberger, also in Kreuzberg, | |
treffen, reden wir meist in der „Ungenauigkeit“ – nicht als Annäherung an | |
eine immer größere Genauigkeit, sondern als genau der Ort des Durchgangs zu | |
dem, was geschieht. Und das ist vermutlich der Ort, an den sich Mathias | |
Broeckers auch in seinem Ruhestand begeben wird. | |
2 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
## TAGS | |
Mathias Broeckers | |
Verschwörungsmythen und Corona | |
Nachruf | |
Fuchs | |
Tierwelt | |
Tierwelt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf auf Verleger Jörg Schröder: Puff und Suff gegen Muff | |
Jörg Schröder ist gestorben. Der legendäre Verleger und taz-Blogger wurde | |
81 Jahre alt. Sein MÄRZ-Verlag war eine wichtige Stimme der 68-Proteste. | |
Die Wahrheit: Rot wie Menstruationsblut | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (94): Füchse werden | |
erstaunlich zahm und bekommen dabei ganz runde Gesichter. | |
Die Wahrheit: Überall Schleim, Schleim überall | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (93): In der glitschigen | |
Zone des Lebens gibt es kein schleimloses Lebewesen. | |
Die Wahrheit: Zum Habicht werden | |
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (92): Offenbar finden vor | |
allem Frauen Zugang zu den eigensinnigen „Raubvögeln“. |