| # taz.de -- Live-Album von Krautrock-Band Can: Nummern ohne Ende | |
| > Aus alten Bootlegs hat Can-Keyboarder Irmin Schmidt ein orgiastisches | |
| > Livealbum kondensiert. Zu hören ist ein Konzert aus Stuttgart, Mitte der | |
| > 1970er. | |
| Bild: Can 1971, links Irmin Schmidt | |
| Das Promotion-Geläut bimmelt durch die Plattenregale richtiger Sammler und | |
| Fans: Das Ehepaar Irmin und Hildegard Schmidt und ihr Label Spoon lesen | |
| abermals all jenen die Messe, die dachten, aus dem Archiv von [1][CAN, der | |
| Signalband des Krautrock], wäre nichts mehr zu heben. Weit gefehlt: In | |
| unregelmäßigen Abständen werden ehedem vergessen geglaubte Aufnahmen und | |
| Tonbandschlaufen ausfindig gemacht, neu ediert, frisch verpackt, verknotet | |
| und dann hurtig über die sanft klebrigen Theken der Plattenläden vertickt. | |
| Nach den „Lost Tapes“ (2012) kam die große, essenzielle, limitierte CAN-Box | |
| mit 17 Alben, dazu abermalige Neupressungen und Neuauflagen der klassischen | |
| CAN-Alben „Soundtracks“, „Tago Mago“, „Soon Over Babaluma“ und sowi… | |
| allem, was je im Namen der Kölner Konservendose verfertigt wurde. Was | |
| während des knapp zehn Jahre währenden Bestehens der Band noch als das | |
| große Flow-Erlebnis gefeiert wurde, wird mittlerweile nicht mehr gespürt, | |
| sondern vor allen Dingen vermarktet. Was ja auch in Ordnung ist. Aber auch | |
| etwas amüsant für eine Band, die einst im Fernsehen noch | |
| klassenkämpferische Parolen von sich gab. Doch aus Überfluss droht | |
| bisweilen Überdruss zu werden. | |
| [2][In der Zwischenzeit ist aus dem kulturellen Erbe] ein tatsächliches | |
| geworden, als nach dem viel zu früh gestorbenen CAN-Gitarristen Michael | |
| Karoli (1948–2001) innerhalb eines Halbjahresintervalls die Wegbegleiter | |
| Holger Czukay und Jaki Liebezeit (beide 1938 geboren) 2017 starben. Dem | |
| trommelnden Herz der Band, Liebezeit, wurde ein Buch und in Köln ein Club | |
| gewidmet, immerhin; das Solowerk Czukays, des alten Schnipplers, wurde in | |
| Form einer aufwendigen Plattenbox inzwischen auch gewürdigt. Gut! Der | |
| ungebrochenen Leidenschaft für die einzig große Band aus Köln – sorry, BAP! | |
| – tat das keinen Abbruch – der Mythos von CAN lebt weiter. | |
| Wie stark diese mythische Verehrung nun tatsächlich wirkt, wird sich bald | |
| herausstellen. Der Lackmustest folgt wiederum in Form von marktgerecht | |
| aufgemachten Veröffentlichungen: „CAN LIVE Serie“ heißt die neueste | |
| Produktidee. Hinter dem schmissigen Namen verbergen sich restaurierte | |
| Bootlegs, also inoffiziell aufgenommene Konzertaufnahmen, die mithilfe der | |
| digitalen Technik endlich das CAN-Konzerterlebnis nach Hause bringen | |
| sollen. Warum eigentlich „endlich“? | |
| Unaufnehmbare Konzerte | |
| Statt „Man höre und staune“ hieß es jahrzehntelang „Staunt, denn es gibt | |
| nichts zu hören“! Genauso wie der Kölner Dom halt niemals fertiggestellt | |
| werden wird, weil sein Baumeister vor 800 Jahren den Teufel verärgert hat, | |
| galten CAN-Konzerte als unaufnehmbar. Mal fehlten Spuren wie etwa 1973 in | |
| Edinburgh, ein Jahr davor, in der Sporthalle in Köln, ging ein Mischpult | |
| kaputt. So blieb das Liveerlebnis genau dies: ein Erlebnis, unerfahrbar für | |
| die Nach- und Außenwelt. Dabei gewesen zu sein – oder qua später Geburt, | |
| fehlender Tickets oder geschmacklicher Verbrämtheit gelang das eben nicht. | |
| Irmin Schmidt, das letzte überlebende Gründungsmitglied der Gruppe, hat | |
| deshalb gemeinsam mit CAN-Toningenieur René Tinner vorhandene | |
| Amateuraufnahmen gesichtet, aufbereitet und in der Studionachbearbeitung | |
| albumtauglich gemacht. Wie ein Fußballspiel dauert auch das Spektakel, das | |
| nun als „Live in Stuttgart 1975“ firmiert, 90 Minuten. Realiter hat das | |
| eher doppelt so lange gedauert; drei Stunden Spieldauer – exklusive Pause! | |
| – waren in den 1970ern keine Seltenheit, wenn der Jam von CAN allabendlich | |
| erst mal Fahrt aufgenommen hatte. | |
| Die Vermarktung übernimmt Irmins Frau Hildegard, die zwar nie Mitglied der | |
| Band war, dennoch als ihr Kopf gelten darf. Immerhin hält sie seit 1980 die | |
| Managementfäden in der Hand – und ist in gewisser Weise die starke Frau und | |
| Architektin des deutschen Exportschlagers Krautrock. Apropos Fäden: Man | |
| denke zurück an Walter Benjamins Haschischexperimente in Marseille und | |
| seine Erkenntnis, dass man, „um den Rätseln des Rauschglücks näher zu | |
| kommen, über den Ariadne-Faden nachdenken“ müsse. | |
| Die von Benjamin beschriebene Lust, „einen Knäuel abzurollen“, korreliert | |
| mit dem, was man anno 1975 auf die Bühne brachte. Das Knäuel, das hier | |
| abgerollt wird, heißt Rock – und am Ende des unendlichen Vergnügens aus | |
| Schrammelei, Gegniedel, Liebezeits tribalistischer Leidenschaft an den | |
| Drums und einem subtilen Groove steht ein saftiger Applaus. Ja, | |
| selbstverständlich hat dieses Livealbum eine Relevanz – trotz der oben | |
| genannten Überempfindlichkeit, die man ob der Veröffentlichungsstrategie | |
| hegen darf. | |
| Mehr als nur Songs | |
| Die Lust, etwas mehr als nur Songs zu wagen, sich ganz und gar dem Jam | |
| hinzugeben, merkt man eben nicht nur Karoli an, der hier wie ein großer | |
| Gitarrero aufspielt, sondern auch dem fast schon funky Bass eines Czukay. | |
| Schmidt selbst spielt eine vortreffliche „Light My Fire“-artige Orgel. Man | |
| hört hier sehr freie Improvisationen von bekannten CAN-Stücken und ihre | |
| Variationen wie zum Beispiel „Vitamin C“ und „Dizzy Dizzy“, sie tauchen… | |
| Felsen in der Brandung eines gewaltigen Lärmspektakels auf. | |
| Es ist, um Benjamin noch einmal zu bemühen, eine „Lust ganz tief verwandt | |
| mit der Rauschlust wie mit der Schaffenslust“. Während nun oben anderthalb | |
| Stunden geschafft wurde, wird heute wie damals gerauscht auf der | |
| Konsument:innenseite. Ganz praktisch, dass bei der Spieldauer von 35 | |
| Minuten, so wie beim dritten Lied, das Band scheinbar lang genug durchlief | |
| – oder, wie es die entfernt verwandten britischen Psychedelikfolkies | |
| Incredible String Band einst formulierten: „Be thankful for the song has no | |
| ending.“ Seid einfach dankbar dafür, dass diese Nummer wirklich kein Ende | |
| hat oder findet. Und trotzdem: Connaisseure kommen hier durchaus auf ihre | |
| Kosten. | |
| Gerade für CAN-Neulinge gibt es ebenso Überraschungen auf dieser | |
| Veröffentlichung: Nein, CAN waren eigentlich nie die große | |
| Motorik-Krautrockband, das waren die Düsseldorfer NEU!; Ja, CAN konnten auf | |
| der Bühne durchaus nerven; und ja, man darf die Meinung vertreten, dass CAN | |
| mit dem Ausnahmeperformer Damo Suzuki am Mikrofon zwar nicht besser, aber | |
| überraschender waren. Dennoch sind die drei leuchtend orangefarbenen | |
| Vinyls, die den Einblick in den Sound Mitte der 1970er gewähren, keine | |
| Fehlinvestition. Wer sich die Mühe macht, den Rauscherlebnissen dieses | |
| Konzerts nachzuspüren, den erwarten wirklich entfesselte anderthalb Stunden | |
| von CAN live in Stuttgart. | |
| 30 Jul 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lars Fleischmann | |
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