# taz.de -- Erinnerung an Carl-Ludwig Reichert: Umsturz in München | |
> Carl-Ludwig Reichert war eine wichtige Stimme der Gegenkultur. Nachruf | |
> auf einen Sänger, Schriftsteller, Pophistoriker und Urbayern. | |
Bild: Carl-Ludwig Reichert (1946-2023), ein hintersinniger bayerischer Multiche… | |
Nur selten gelang es, mit Carl-Ludwig Reichert längere Telefonate zu führen | |
– immer erwartete er einen Rückruf, und manche von uns spotteten, Hollywood | |
würde sich jetzt endlich bei ihm melden. Hollywood rief zwar nie an, | |
trotzdem sollte die Leitung nicht zu lange besetzt sein. | |
So fasste sich Carl-Ludwig, dessen Lehrer ihm einst das „K“ für die | |
Wandlung zum Karl-Ludwig ans Herz gelegt hatte, wenn er Karriere machen | |
wolle, am Telefon immer kurz, mit leiser, fast brüchiger Stimme. | |
Kaum zu glauben, dass er als Sänger auf dem zweiten Album [1][„Huraxdax | |
Drudnhax“] der von ihm mit gegründeten Rockband Sparifankal das mindestens | |
16 Strophen umfassende Lied „D Schui brend, d Schui brend, d Kinda deafa | |
hoam …“ voller Lebensfreude plärrte. | |
## Schule brennt | |
Erst brennt die Schule, dann das Kaufhaus, das Kraftwerk, schließlich der | |
Landtag, bis der Sänger „nimma weidablean“ (nicht mehr weiterplärren) mag, | |
weil sonst ein niederbayerischer Anarchist 1979 auf dem Leitnerhof in | |
Illbach seine Stimme verliert. („I ko jez nimma weidablean, i hob mei | |
Schdim faloan“). | |
Zuvor spielte Reichert mit der Gruppe druud: „druud macht widerstandsmusik | |
mit überwiegend bairischen texten, auf der straße, auf der wiese, im wald, | |
im gebirg, im mietshaus, in der kanalisation …“ und wie später auch [2][als | |
Sparifankal] in einem Dokfilm über Gastarbeiter in München. | |
Sich selbst beschrieb Reichert als „Schriftsteller, Musiker, | |
Privatgelehrter“, aber er war in seiner Musik, in seinen Veröffentlichungen | |
als Lyriker, Essayist, Pophistoriker, Mundartexperte, Kolumnist und | |
Regisseur ein Kommunikator ohnegleichen. | |
## Frank Zappa und Marieluise Fleißer | |
Sein profundes Wissen teilte er in Filmprojekten, im Radio, bei Konzerten, | |
in Magazinen und als Übersetzer; notfalls auch als sanfter Polemiker. | |
Reichert war allen Moden und Verzweiflungen um Jahrzehnte voraus: etwa mit | |
seinem Engagement für den großen, damals noch unbekannten Frank Zappa und | |
mit seiner Liebe zur Autorin Marieluise Fleißer, wie er aus Ingolstadt | |
stammend. | |
Dem Exilschriftsteller Max Mohr, Paul McCartney und Hunter S. Thompson | |
widmete er größere Arbeiten. 2001 erschien das Grundlagenwerk „Blues – | |
Geschichte und Geschichten“. Mit Klaus Humann gab Reichert das Magazin der | |
populären Musik „Rock Session“ in mehreren Bänden mit „Außenseiter-Lex… | |
heraus. | |
Seit 1970 schrieb und produzierte er für die Literatursendung „Pop Sunday“ | |
des BR, moderierte und produzierte Sendungen der „Jungen Welle“, wie sich | |
der Jugendfunk nannte; bis 2011 blieb er dem Sender treu, was an ein Wunder | |
grenzt, weil niederbayerische Dickköpfigkeit und alertes Anstaltsdenken | |
nicht so recht harmonieren, aber genau aus solchen Spannungen war die | |
Kreativität dieser Redaktion entstanden. | |
## Zorn auf Pseudologen | |
Sein urbayerischer Zorn traf die Pseudologen, die es angeblich auch in den | |
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten wie in den kommerziellen Medien | |
geben soll, in der Politik sogar in Legionstärke in Zeiten herabfallender | |
Flugblätter aus Niederbayern: diese Angeber, Hochstapler, Plot-Diebe, | |
Sex-Protze wie Arno Schmidt, dem „literarischen Schuft“, den er 2009 in dem | |
von Manfred Chobot herausgegebenen Buch „Genie & Arschloch“ auf das Feinste | |
zerlegte. | |
Mit Herbert Kapfer widmete er sich in der [3][Collage „Umsturz in München“ | |
Schriftstellern der Räterepublik]. Über 40 Jahre moderierte Reichert, | |
inzwischen alt geworden, aber in seiner Begeisterungsfähigkeit jung | |
geblieben, verschmitzt unter seinem Hut in die Runde blickend, leicht | |
melancholisch, in seiner Liebe überbordend, in seinem Zorn gegenüber | |
Dilettanten, Sprachverhunzern und Dialektzuckerbäckern gnadenlos. Glücklich | |
war er bis zuletzt, wenn er mit seiner Band vor Publikum spielte. | |
Dass er einer der Übersetzer von „Asterix und Obelix“ ins Bayerische war: | |
Die Arbeit passte zu ihm, dem vielseitigen Trotzkopf. Carl-Ludwig Reichert, | |
erfand zusammen mit Michael Fruth das Pseudonym Benno Höllteuffel, und sie | |
schrieben 1972 mit diesem Alias das bemerkenswerte Mundarthörspiel „Bas | |
Auf, Da Depp Heat Zu“, einen Versuch, die Leidensgeschichte eines geistig | |
behinderten Jugendlichen konsequent aus dessen Perspektive darzustellen. | |
## Schrammeloperette | |
Ihr [4][Hörspiel] endet als Schrammel operette mit dem Titel „da depp ist | |
fuat, jez gets uns guat“. 1973 sendete es der Bayerische Rundfunk. Unter | |
den Mitwirkenden Reicherts lebenslange Liebe, die Autorin und | |
Literaturwissenschaftlerin Monika Dimpfl, für die er in seinem Buch „ein | |
walroß macht noch keinen spätherbst“ eine Zueignung schrieb. | |
Auf dem bei Trikont erschienenen Debüt von Sparifankal: [5][„Bayern Rock“] | |
ist Reichert an Gesang, Gitarre und Posthorn zu hören. Im Finale singt er: | |
„I las me nimma drazn / Und nimma komandian / Ich mechad so wean wiare bin | |
/ I las me ned oschmian / Fo eich des wo blos ren, nix dean / Damit wos | |
andas wead / Lasdsma mei rua i ria me scho Wans soweid is, hobds keat!“ Am | |
4. September ist Carl-Ludwig Reichert 77-jährig in München gestorben. | |
8 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=p42OIo0zlJE | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=L8Mn1-hNP2U&list=OLAK5uy_ltT4B1rdXvxVtd… | |
[3] /100-Jahre-Freistaat-Bayern/!5544530 | |
[4] https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/hoerspiel-und-medienkunst/hoerspi… | |
[5] https://www.youtube.com/watch?v=FIusmzAq5LE | |
## AUTOREN | |
Christoph Lindenmeyer | |
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