# taz.de -- Doku über Pogues-Sänger MacGowan: Bier, Zähne und Schalk | |
> Julien Temple porträtiert mit „Shane“ den ehemaligen Sänger der | |
> Folkpunkband The Pogues. Dies gelingt ihm ungeschönt und ohne Verklärung. | |
Bild: Begnadeter Geschichtenerzähler und Sänger: Shane MacGowan, 1988 | |
„Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende“, heißt es in einem | |
der berühmtesten Western von John Ford – auch ein Mann mit irischen Wurzeln | |
–, doch was, wenn die Legende auf so extreme Weise das gegenwärtige Bild | |
einer lebenden Legende konterkariert? | |
Ohne Frage zählt Shane MacGowan zu den berühmtesten Iren der letzten | |
Jahrzehnte, prägte mit den unvergesslichen Folkpunksongs seiner Band The | |
Pogues das Bild der Grünen Insel im Nordwesten Europas, entsprach geradezu | |
idealtypisch dem Klischee des wilden, ständig betrunkenen Iren – und ist | |
mit seinen inzwischen 63 Jahren ein körperliches Wrack. | |
Jahrzehnte von exzessiven Alkohol- und Drogenkonsum haben Tribut gefordert, | |
nach einem Sturz ist MacGowan inzwischen auf einen Rollstuhl angewiesen, | |
kann nicht mehr gerade sitzen, lallt seine Worte mehr, als dass er sie klar | |
artikuliert. In den fast zwei Stunden von Julien Temples biografischem | |
Dokumentarfilm „Shane“ (im Original schöner und prägnanter: „Crock of G… | |
A Few Rounds with Shane MacGowan“) hat man ausgiebig Zeit, MacGowans | |
Verfall zu betrachten. | |
Fast voyeuristisch mutet es in manchen Momenten an, wenn Temple seinen | |
Protagonisten im Gespräch mit Zeitzeugen wie dem schottischen Musiker Bobby | |
Gillespie, [1][dem ehemaligen Anführer von IRA und Sinn Féin, Gerry Adams], | |
und Johnny Depp, der den Film auch produzierte, zeigt, Gespräche, die sehr | |
einseitig wirken. Die Gegenüber wirken berührt, ja geehrt, MacGowan zu | |
treffen, auf Fragen oder Bemerkungen zu antworten fällt ihm jedoch schwer, | |
ohne Untertitel wäre man hier aufgeschmissen. | |
## Helden in historischen Aufnahmen | |
[2][Mit Legenden kennt sich Julien Temple aus, er hat Filme über Joe | |
Strummer] und Keith Richards gedreht, gleich zwei über die Sex Pistols. Vor | |
20 Jahren verzichtete er in „The Filth and the Fury“ darauf, die alternden | |
Helden zu zeigen, verwendete nur alte Dokumentaraufnahmen, die mit neuen | |
Interviews unterlegt waren. In „Shane“ zeigt er dagegen Shane MacGowan | |
ungeschönt und ohne Verklärung. Nicht die Legende von MacGowan ist das, | |
sondern das wahre Leben. – Auch wenn das selbst wie aus irischer Mythologie | |
geschöpft wirkt. | |
Der sagenumwobene Pott aus Gold des Originaltitels deutet es an: Die | |
Legenden, die die Iren gern erzählen, mit Vorliebe über sich selbst, prägen | |
und verklären das Bild Irlands. Durch animierte Wolken schwebt die Kamera | |
zu Beginn von „Shane“, zeigt irische Legenden wie den Riesen Finn McCool | |
oder den „Lachs des Wissens“, in rasanter Montage und reichem | |
Archivmaterial werden Stationen der irischen Geschichte angerissen: Die | |
Hungersnot im 19. Jahrhundert, die viele Iren ins US-Exil trieb, ab 1916 | |
der Kampf für die Unabhängigkeit, die nach dem Ersten Weltkrieg erlangt | |
wurde, der beginnende Nordirlandkonflikt, je nach Sichtweise Terrorismus | |
oder antikolonialer Befreiungskampf. | |
In diesem Kontext wuchs MacGowan auf, Geschichten und Mythen seiner Heimat | |
prägten ihn, auch wenn er selbst auf englischem Boden, in Kent, geboren | |
wurde und nur wenige Jahre seines Lebens in Irland aufwuchs. Man kann also | |
fragen, ob MacGowan mehr von Irland geprägt wurde oder doch von den Mythen, | |
die die Exiliren über ihre Heimat erzählen, die sie aus den | |
unterschiedlichsten Gründen verlassen mussten. | |
## Hurra, er lebt noch | |
Passenderweise heißt der größte Hit der Band dann auch „Fairytale of New | |
York“ und erzählt vom Leben im Exil. 1987 veröffentlicht, zog der Hit eine | |
schier endlose Tour nach sich, die letztlich das Ende der Band einläutete. | |
Zu diesem Zeitpunkt hatte MacGowan schon eine Alkoholsucht hinter sich, die | |
angeblich begann, als er vier Jahre alt war. Damals soll seine Tante ihm | |
Bier eingeflößt haben, der Legende nach, um ihn vor dem Teufel zu bewahren. | |
Mit zehn floss der erste Whiskey, bald kamen Speed, LSD und anderes hinzu. | |
Dass Shane MacGowan noch am Leben ist, mutet wie ein Wunder an. | |
Die große Phase der Pogues dauerte nur ein paar Jahre, seit Anfang der | |
1990er Jahre lebt MacGowan von seiner Legende, vielleicht könnte man auch | |
sagen, er lebt seine Legende. Wenn er da sitzt, eine Flasche Wein vor sich, | |
ein Zigarillo in der Hand und einem aufmerksamen Zuhörer wie Johnny Depp | |
von Drogeneskapaden auf der ein oder anderen Tour berichtet, mag das auf | |
den ersten Blick amüsant wirken. In den traurigen Augen MacGowans erahnt | |
man jedoch die Tragik einer Existenz, die nach bester Rockstar-Logik | |
funktionierte: schnell und hart leben und jung sterben. | |
Nur dass es im Fall von MacGowan mit dem jung Sterben nicht geklappt hat | |
und er nun, mit 63, eher einem lebenden Toten ähnelt als einer Legende. Was | |
umso tragischer anmutet, da hinter der Fassade offenbar ein wacher Geist | |
lebt, der in Momenten immer noch den Schalk durchscheinen lässt, der zum | |
Kampf gegen Autoritäten mit dazugehört, den scharfen Witz, der dazu | |
beitrug, ihn zum Posterboy des anarchischen Revolutionärs zu machen. War es | |
das alles wert? Am Ende von Julien Temples „Shane“ bleibt die Antwort | |
offen, doch die Musik von Shane MacGowan wird bleiben, selbst dann, wenn | |
seine Legende verblassen sollte. | |
19 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-Chefin-der-Sinn-Fein-Partei-in-Irland/!5481238 | |
[2] /Doku/!5199648 | |
## AUTOREN | |
Michael Meyns | |
## TAGS | |
Dokumentarfilm | |
Punk | |
Folk | |
Irland | |
Alkohol | |
Stadtland | |
Autobiografie | |
Nachruf | |
US-Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Subkultur in der Erziehung: Jugendgefährdende Schriften | |
Wie erklärt man Subkultur dem Kinde? Und wie viel Subkultur kann man sich | |
mit Kindern eigentlich noch leisten? | |
Memoiren von Musikmanager Alan McGee: War das wirklich ich? | |
Oasis-Entdecker Alan McGee schildert in „Randale, Raves und Ruhm“ die Story | |
seines Labels Creation und einer sagenhaften Managerkarriere. | |
Nachruf auf Karl Heinz Bohrer: Aus der Tiefe des Raumes | |
Karl Heinz Bohrer war FAZ-Literaturredakteur und Merkur-Herausgeber. Nun | |
ist der streitbare Intellektuelle im Alter von 88 Jahren verstorben. | |
New Yorker Künstler Duncan Hannah: Abstrakter Espresso | |
„Dive“, das Tagebuch des New Yorker Künstlers Duncan Hannah aus den | |
1970ern, ist nun auf Deutsch erschienen. |