Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nachruf auf Karl Heinz Bohrer: Aus der Tiefe des Raumes
> Karl Heinz Bohrer war FAZ-Literaturredakteur und Merkur-Herausgeber. Nun
> ist der streitbare Intellektuelle im Alter von 88 Jahren verstorben.
Bild: Mit 88 Jahren gestorben: Karl Heinz Bohrer (aufgenommen 2012 in London)
Karl Heinz Bohrer ist tot. Vermissen werden ihn vermutlich wenige, ganz den
schillernden Nachrufen zum Trotz, die im Todesfalle immer verfasst werden
und auch jetzt die Spalten und Screens füllen. Denn Bohrer, so etwas
Seltsames wie ein Gentleman-Anarchist, ein Ästhet, der längst vergangenen
Kunstströmungen anhing und der die Milieus der schwarzen und grünen
Konservativen wie auch der Linken verachtete, hat zeit seines Lebens „viel
Feind gemacht“ – wie man in Anlehnung an Ernst Jünger, einen frühen
Lieblingsautor Bohrers – festhalten könnte.
Der Begriff [1][„Gutmensch“ – 2016 zum Unwort des Jahres gewählt] – ge…
auf einen Text Bohrers aus dem Jahr 1992 in der von ihm herausgegebenen
Zeitschrift Merkur zurück. Im „guten Menschen“ kulminierten in der Sicht
Bohrers Provinzialität und Moralismus. Deshalb geißelte er ihn.
Provinzielles Denken verortete er aber nicht nur – wie im Falle „Gutmensch�…
– im linksliberalen Lager jener Jahre, sondern auch bei der Rechten.
Legendär seine Verknüpfung der beiden „Birnen“ Helmut Kohl und Louis
Philippe im Jahr 1984. Der französische Bürgerkönig und der
CDU-Bundeskanzler seien sich nicht nur wegen ihrer, so Bohrer,
„birnenförmigen Erscheinung“, ähnlich, sondern auch wegen der in ihren
Zeiten entstehenden politischen und wirtschaftlichen Eliten.
Absolute Verantwortungslosigkeit präge diese, kein Stilgefühl hätten sie,
stattdessen ein Sielen in der eigenen Lächerlichkeit, die alles möglich
mache. Kohl-Nachfolgerin Angela Merkel bezeichnete er in einem Interview
mit der SZ als „endgültige Banalfigur Mensch“. Er unterstellte ihr einen
„Verfall von Distinktionsfähigkeiten“, „extrem banale Sprache“ und eine
„Drögigkeit der schieren Faktizität“. Sehr zu Recht machte er das;
„alternativlos“ dürfte als das prägende Merkelwort in die Geschichte
eingehen.
## Idole beim Exzess
Seine Idole fand Bohrer im Exzess. Den RAF-Macho Andreas Baader soll er
bewundert haben, mit Ulrike Meinhof verband ihn eine längere Freundschaft.
Bohrer pflegte stolz davon zu erzählen – damals, als die RAF noch real
verfolgt wurde, aber auch später, als frühere RAF-Sympathisant*innen zum
Nutzen und Frommen des eigenen Karrierewegs in Kultur, Universität und
Politik die wachsende Distanz zur einstigen Stadtguerilla herauszustellen
pflegten.
Der Exzess, der Umsturz, das Katastrophische waren seit jeher Magneten im
Denken Bohrers. Nicht von ungefähr also die Nähe zu Jünger, zu
[2][Baudelaire], zu Hölderlin. Nicht von ungefähr auch die Nähe zu England
und der von ihm dort beobachteten „Lust am Untergang“. Die entdeckte er vor
allem in den 1970er und 80er Jahren, als er in London lebte, bei der
britischen Oberschicht, die sich an keine Konventionen hielt und bei den
Proleten, von denen sich die einen dem Punk und die anderen dem
Hooliganismus hingaben.
Bohrer, der Literaturredakteur und Literaturprofessor, brachte aus England
auch die Liebe zum Fußball mit. Das war eine echte Außenseiterposition in
den damaligen akademischen Milieus. In Wikipedia fand Aufnahme, dass die
Formulierung [3][„aus der Tiefe des Raumes“,] angewandt auf den damaligen
Fußdenker Günter Netzer, von Bohrer stamme.
## Plötzlichkeit als ästhetische Kategorie
Wichtiger war ihm selbst der Begriff der „Plötzlichkeit“, den er als
ästhetische Kategorie einführte. Erneut fällt die Liebe zum Disruptiven
auf. Gleicht man diese Lust am „Erwartungsschrecken“ und der
„Erwartungsangst“, weiteren Kategorien Bohrers, mit dessen Lebensstationen
ab – Erziehung in einem Schwesterinternat von Salem, Redakteurskarriere
erst bei Springer, dann Literaturchef bei der FAZ, später deren
Englandkorrespondent, danach Professor in der deutschen Provinz –, mutet
sie wie eine Sehnsuchtshandlung aus tiefster banaler Bürgerlichkeit heraus
an.
Mit schön abgemischtem Hohn zitiert denn auch Maxim Biller den späteren
FAZ-Herausgeber Gustav Seibt, Bohrers Absetzen als Literaturchef in
Frankfurt sei das einzige echte Drama in dessen Leben gewesen. Bohrer
musste damals Platz für Marcel Reich-Ranicki machen.
Einschneidendere Erlebnisse als diese Karrierebremse im Verlagswesen hatte
Bohrer allerdings durchaus. Das Internatsleben war von den – nicht nur
damals – üblichen Züchtigungen begleitet. Seine Frau, die auch von Bohrers
Intimfeind Reich-Ranicki hochgeschätzte Schriftstellerin Undine Gruenter,
litt an einer fortschreitenden Lähmung der Muskeln, die zum frühen Tod
führte. Bohrer begleitete sie, notierte Zeile für Zeile ihr letztes Buch,
das sie mit immer schwächer werdender Stimme diktierte.
Sollte [4][Undine Gruenter] im Zuge von Bohrers Tod „wiederentdeckt“
werden, wäre dies ein guter Begleiteffekt. Von Bohrer wird bleiben, dass er
das Mittelmaß herzlich verachtete, eine Hassliebe zu Deutschland und eine
Liebe zu England pflegte, und sich mit „Birne“ und Baudelaire, Baader,
Netzer und Jünger gleichermaßen gut auskannte.
6 Aug 2021
## LINKS
[1] /Kommentar-Unwort-des-Jahres/!5265282
[2] /Kunst-und-Kuenstlichkeit/!1624015/
[3] /Der-Mythos-von-Wembley/!5095764
[4] /Subjektiver-Literaturkanon-I/!5082361
## AUTOREN
Tom Mustroph
## TAGS
Nachruf
FAZ
London
Intellektuelle
Literaturkritik
Dokumentarfilm
BRD
## ARTIKEL ZUM THEMA
Doku über Pogues-Sänger MacGowan: Bier, Zähne und Schalk
Julien Temple porträtiert mit „Shane“ den ehemaligen Sänger der
Folkpunkband The Pogues. Dies gelingt ihm ungeschönt und ohne Verklärung.
Geschichte der BRD: Ein intellektuelles Panorama
Axel Schildt rekonstruiert die Geburt der bundesrepublikanischen
Medienintellektuellen aus den Trümmern des „Dritten Reiches“.
Neuer Herausgeber beim "Merkur": Die Bohrtiefe der Texte
Lange prägten Bohrer und Scheel den "Merkur". Wohin steuert nun
Deutschlands wichtigste Intellektuellenzeitschrift unter Christian Demand?
Ein Redaktionsbesuch.
Zeitschrift: Die Hölle der Banalität
Der "Merkur" kämpft in seinem diesjährigen Sonderheft ermattet für unsere
Dekadenz.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.