| # taz.de -- Geschichte der BRD: Ein intellektuelles Panorama | |
| > Axel Schildt rekonstruiert die Geburt der bundesrepublikanischen | |
| > Medienintellektuellen aus den Trümmern des „Dritten Reiches“. | |
| Bild: Böll, Adorno und Unseld 1968 bei einer Veranstaltung gegen die Notstands… | |
| „Gott allein weiß, wer das lesen soll“, schrieb der Kritiker der | |
| Kulturindustrie Theodor W. Adorno mit einer kräftigen Dosis Selbstironie im | |
| November 1963 an seinen alten Freund Siegfried Kracauer in New York. | |
| „Prismen“, Adornos erstes Buch in Massenauflage, sollte auch Kracauer auf | |
| Veröffentlichungschancen in Deutschland aufmerksam machen. Die gerade | |
| begonnene [1][„edition suhrkamp“] markierte einen grundlegenden Wandel im | |
| deutschen Buchmarkt. | |
| Texte, die früher einem kleinen elitären Kreis vorbehalten waren, fanden | |
| ein breites Publikum. Die Leserschaft hatte sich verjüngt, neue und damit | |
| auch ältere exilierte Autoren bekamen eine Chance, die westdeutsche Provinz | |
| öffnete sich. Suhrkamp schickte gleich die Zeitschrift [2][Kursbuch] mit, | |
| um in der neuen Weltoffenheit Orientierung zu liefern. | |
| Der kürzlich viel zu früh verstorbene Zeitgeschichtler Axel Schildt hat die | |
| fundamentale Veränderung der Bundesrepublik als Geschichte der | |
| Medien-Intellektuellen erzählt. Schildt, so hat man das Gefühl, hat | |
| wirklich alles von Beginn in den späten vierziger Jahren bis in die | |
| Gegenwart gelesen, was geschrieben und gesendet wurde. | |
| Aber noch besser: Schildt kann den Strom der intellektuellen Debatten | |
| wiedergeben, ohne sich in Paraphrasen zu verzetteln. In seiner Darstellung | |
| entsteht ein Panorama von den konservativ dominierten fünfziger Jahren bis | |
| zum Ende der „langen“ sechziger Jahre, in denen das Land in West wie Ost | |
| modernisiert wurde. | |
| ## Arena öffentlicher Meinung | |
| Schildt rekonstruiert die Geburt des neuen Medienintellektuellen aus den | |
| Trümmern des „Dritten Reiches“. Unter der Besatzungsherrschaft entstanden | |
| neue intellektuelle Produktionszentren. Die dominante Stellung Berlins | |
| verlor sich mit der deutschen Teilung. Hamburg, Frankfurt und München | |
| wurden Anziehungspunkte mit Verlagen, Zeitungen und Radioprogrammen. Die | |
| öffentlich-rechtlichen Sender ermöglichten, unabhängig vom Marktgeschehen, | |
| eine in der westlichen Welt einzigartige Arena öffentlicher Meinung. | |
| Pluralität war nicht gegeben, sie musste hart erkämpft werden. Verleger, | |
| Intendanten, Redakteure kamen nicht aus dem Nichts, sondern in ihrer | |
| überwältigenden Mehrheit aus dem „Dritten Reich“. Ihre Lebensgeschichten | |
| lesen sich unterschiedlich; Edelfedern, die sich durchgemogelt hatten, | |
| tauchen ebenso auf wie die Opfer von Schreibverboten, alte SS-Männer fehlen | |
| ebenso wenig wie engagierte Demokraten. | |
| Viele, meist beschwiegene Verwandlungen lassen sich beobachten. Aus alten | |
| Nazis werden oft autoritäre Demokraten; aus militanten Antifaschisten | |
| erbitterte Antikommunisten. Man kann dieses Buch als Lexikon benutzen; im | |
| Personenregister nachschlagen und die Geschichte der Medienintellektuellen | |
| finden, über die man mehr wissen möchte. Aber Schildt liefert nicht nur | |
| eine Unzahl von individuellen Details, sondern er macht die informellen | |
| Beziehungen und Strukturen sichtbar. Die Leser werden überrascht von einer | |
| Vielzahl von Fronten- und Positionswechseln. | |
| ## Kaum Luft zum Atmen | |
| Die vierziger Jahre stehen noch ganz im Banne der deutschen Teilung. Die | |
| Sowjetische Besatzungsmacht bot geistigen Produzenten | |
| Publikationsmöglichkeiten, die mit dem beginnenden Kalten Krieg liquidiert | |
| wurden. Für Intellektuelle blieb im Osten kaum noch Luft zum atmen; der | |
| permanente Exodus der DDR-Intellektuellen veränderte auch die westdeutsche | |
| Landschaft. | |
| Der Kalte Krieg beförderte den Durchbruch der Moderne im provinziellen | |
| Westdeutschland. Die Konservativen bewahrten ihr intellektuelles Potenzial | |
| im Hintergrund: Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger standen | |
| jungen Leuten, die nach rechts Ausschau hielten, immer zu Diensten. | |
| Redakteure, Professoren und Autoren pilgerten zu ihnen und sicherten ihren | |
| Einfluss in Redaktionen und Lektoraten. | |
| Spannend ist der Kampf zwischen Merkur und Monat um die | |
| Meinungsführerschaft im Zeitschriftenmarkt nachzulesen. Der Monat, gestützt | |
| mit US-amerikanischem Geld, setzte auf die Konfrontation eines modernen | |
| Westens gegen die regressive Abschottung des antikosmopolitischen Ostens. | |
| [3][Der Merkur ] versuchte antitotalitär Schritt zu halten, bediente sich | |
| aber auch gern im Fundus deutsch-elitärer Geistestradition. | |
| Die südwestdeutsche Industrie bot dem Projekt finanziellen Rückhalt. | |
| Soziologen wie Arnold Gehlen und Helmut Schelsky standen bereit, einen | |
| autoritären Konservativismus zu propagieren. Der [4][junge Jürgen Habermas] | |
| aber spürte deren Antiintellektualismus und lehnte es ab, als | |
| modernisierendes Feigenblatt zu dienen. | |
| ## Neue Bildungswut | |
| Die meisten autoritären Konservativen wollten nicht in einer antimodernen | |
| Nische verharren. Mit „rowohlts deutscher enzyklopädie“ erreichten sie | |
| einen expandierenden Buchmarkt. Das wissenschaftliche Taschenbuch war | |
| geboren, das die Bildungswut der „skeptischen Generation“ (Schelsky) | |
| abdecken sollte. | |
| Bildung schien Ablass auf den nationalsozialistischen Sündenfall | |
| Deutschlands zu gewähren. Das Generationenmodell kontrastierte eine | |
| unschuldige Jugend im Gegensatz zu den Untaten der Väter. „Gebildete“ oder | |
| „Geistige“ nannten sich Intellektuelle schon zu Zeiten der Weimarer | |
| Republik, um sich von den subalternen Massen abzugrenzen. Der Blick von | |
| oben ermöglichte ohne große Umstände Distanz zur Pöbelherrschaft der Nazis | |
| und sollte nach dem Nationalsozialismus die Bildung neuer Eliten begründen. | |
| Die verschlungenen Pfade der Exkulpation lassen sich bei Schildt genau | |
| verfolgen. | |
| Eine besondere Rolle spielten in den Medien bis Ende der fünfziger Jahre | |
| ehemalige Nationalrevolutionäre aus dem Geist der konservativen Revolution | |
| wie Ernst Niekisch, Hans Zehrer, Karl Korn, Friedrich Sieburg und Paul | |
| Sethe. Wer hätte gedacht, dass ein Mitbegründer der FAZ mit dem einstigen | |
| Nationalbolschewisten einen freundschaftlichen Gedankenaustausch pflegte? | |
| Hans Zehrer, einst führender Kopf im weimarfeindlichen Tatkreis, war zum | |
| Ideengeber des jungen Axel Springer geworden, der in den frühen fünfziger | |
| Jahren seinen Platz zwischen ultrakonservativer Zeit und | |
| nationalneutralistischem Spiegel suchte. | |
| ## Ressentiments ermöglichten Erfolg | |
| Ressentiments gegen die Besatzungsmächte ermöglichten große Bucherfolge wie | |
| den „Fragebogen“ des aristokratischen Anti-Rathenau-Verschwörers Ernst von | |
| Salomon, den ein nach allen Seiten offener Ernst Rowohlt verlegte, der doch | |
| gerade mit seinen billigen Rotationsromanen Hemingway und andere | |
| amerikanische Schriftsteller populär gemacht hatte. | |
| Die Intellektuellen mussten ihren Platz in der nachnationalsozialistischen | |
| Gesellschaft finden, die Schelsky schon 1953 als „nivellierte | |
| Mittelstandsgesellschaft“ charakterisiert hatte – ein publizistischer | |
| „Plausibilitätserfolg“, wie Schildt zu Recht kritisiert. Böse Zungen haben | |
| Schelskys Vorstellung auch als Fortleben der Volksgemeinschaftsideologie | |
| mit anderen sprachlichen Mitteln bezeichnet. Der verachtungsvolle Blick auf | |
| die Massen musste sich nicht ändern. Mit Kulturpessimismus ließ sich die | |
| Notwendigkeit funktioneller Eliten begründen. | |
| Das christliche Abendland hatte inzwischen als Legitimationsreservoir | |
| ausgedient, die Bundesrepublik rechtfertigte sich in den sechziger Jahren | |
| durch ökonomischen Erfolg. Die anwachsende Gesellschaftskritik entstand aus | |
| den Widersprüchen der Kulturkritik. Das Bildungsbürgertum hatte sich lange | |
| gegen die angebliche Amerikanisierung der westdeutschen Gesellschaft | |
| gewehrt; aber gerade die Medien mussten die Modernisierungsbedürfnisse der | |
| Gesellschaft aufgreifen. | |
| Die gar nicht homogene „Gruppe 47“ öffnete die Medien für neue Horizonte | |
| und Autoren aus ihrer Mitte fermentierten als Lektoren und Redakteure die | |
| öffentlichen Diskussionen. Namen wie Alfred Andersch, [5][Hans Magnus | |
| Enzensberger] und Martin Walser müssen hier genannt werden. | |
| Gesellschaftskritische Schriftsteller und Publizisten dienten als Feindbild | |
| des Establishments. Der Wirtschaftswunderkanzler Ludwig Erhard (CDU) nannte | |
| sie verbittert „Pinscher“. | |
| ## Der eloquent-kämpferische Adorno | |
| Rundfunkdebatten erwiesen sich jenseits von elitären Konferenzen lange vor | |
| den televisionären Talkshows als neue geistige Arenen. Adorno zum Beispiel | |
| schreckte keineswegs vor Diskussionen mit konservativen Matadoren zurück, | |
| selbst wenn er wie bei Gehlen ziemlich genau über deren | |
| nationalsozialistische Vergangenheit bescheid wusste. Der Lyriker Gottfried | |
| Benn entzog sich mit leicht antisemitischem Schaudern einer Funkdebatte mit | |
| dem eloquenten Adorno, der wiederum von dessen antiintellektuellen | |
| Schandtaten aus dem Jahre 1933 wusste. | |
| Schildt gelingt es, die großen Linien einer inzwischen fragmentierten | |
| Öffentlichkeit zu zeigen. Leider verläuft sich sein Text, der vorzüglich | |
| von Detlef Siegfried und Gabriele Kandzora ediert worden ist, Ende der | |
| sechziger Jahre. Frauen kommen, nicht Schuld des Autors, relativ wenig vor. | |
| Gerade sie werfen ein Licht auf das ganze Spektrum: die erzkonservative | |
| Margret Boveri, die vertriebene, erst spät liberal gewordene Gräfin | |
| Dönhoff, die in allen Medien besonders gefragte Hannah Arendt, deren | |
| Lektor beim Piper Verlag ein ehemaliger Obersturmbannführer im | |
| Reichssicherheitshauptamt war. Sie wusste davon nichts. | |
| Leser dieses 900 Seiten Monumentalwerkes können das alles erfahren: | |
| Intellectual History als Zeitgeschichte von einem Zeitzeugen ohne | |
| polemische Verzerrung geschrieben. Ein Panorama der alten Bundesrepublik, | |
| die aus dem Blick schwindet. | |
| 4 Feb 2021 | |
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