# taz.de -- Gedenklesung für Enzensberger: Die verwundete Gitarre | |
> Der Suhrkamp-Verlag lud zur Lesung im Gedenken an Hans Magnus | |
> Enzensberger. Sein Bruder Ulrich Enzensberger erzeugte einen bewegenden | |
> Augenblick. | |
Bild: Ulrich Enzensberger bei einer Lesung von Texten seines anderen Bruders Ch… | |
BERLIN taz | Was ist ein Gedicht? Als die Gedenklesung für [1][Hans Magnus | |
Enzensberger] am Dienstagabend eigentlich schon beendet war und der | |
Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe das Büfett eröffnen wollte, meldete | |
sich [2][Ulrich Enzensberger] aus dem Publikum zu Wort. | |
Ulrich Enzensberger ist der jüngere Bruder des im vergangenen November | |
gestorbenen Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger. Er war einst | |
Mitbegründer der legendären Kommune 1 und ist selbst Autor, und er hielt | |
ein Buch hoch. Das Buch habe er auf der Straße gefunden, sagte er, | |
„Lieblose Legenden“ von Wolfgang Hildesheimer. Und darin habe sich ein | |
Gedicht seines Bruders befunden, ob er das noch verlesen dürfe? | |
Natürlich durfte er, und so trat Ulrich Enzensberger, der seinem Bruder | |
inzwischen auf eine rührende Weise ähnlich sieht – die gleiche hagere | |
Figur, die gleiche markante Nase –, nach vorne ans Mikrofon. | |
Suhrkamp hatte in die Verlagsvilla an der Rehwiese in Berlin-Nikolassee | |
geladen. „Ein Fest für Magnus, keine Trauerfeier“, solle es werden, hatte | |
Ulla Unseld-Berkéwicz in ihrer Begrüßung gesagt. Autor*innen, Verlagsleute, | |
Journalisten, Professoren waren gekommen. Auch jenseits des unmittelbaren | |
Anlasses kamen leicht sentimentale Gefühle auf. Es war mal wieder eine | |
Veranstaltung des Literaturbetriebs wie zur Zeit, bevor Corona alles im | |
Griff hatte (eine Nebenerkenntnis dabei: Einen Coronaroman will wirklich | |
niemand lesen, man kann nur abraten, so etwas schreiben zu wollen; die | |
Pandemie wollten beim Smalltalk eigentlich alle hinter sich lassen). | |
Ein rein männliches Line-up – die Autoren Christoph Ransmayr, Ralf | |
Rothmann, Lutz Seiler, Durs Grünbein – hatte als Hauptprogrammpunkt des | |
Abends Enzensberger-Gedichte gelesen, Gesänge aus dem „Untergang der | |
Titanic“, Übertragungen aus dem „Museum der modernen Poesie“, Klassiker … | |
„Die Dreiunddreißigjährige“ oder das „Lied von denen, auf die alles | |
zutrifft und die alles schon wissen“. | |
## Verwandelt in den Bruder | |
Das war alles schon recht schön, und die intellektuelle Figur | |
Enzensbergers, seine „beeindruckende Intelligenz“, seine | |
schriftstellerische „ökonomische Effektivität“ standen im Raum. Und dann | |
kam eben Ulrich Enzensberger, inzwischen 78 Jahre alt, nach vorne und | |
schien sich – die Lyrik kann das offenbar – geradezu in seinen Bruder zu | |
verwandeln. | |
Er hatte schon bei den Lesungen der anderen Autoren mit seinem Oberkörper | |
rhythmisch mitgeschwungen. Nun las er selbst das in dem von ihm gefundene | |
Buch gefundene Gedicht „Schläferung“: „lass mich heut nacht in der gitar… | |
schlafen / in der verwundeten gitarre der nacht / lass mich ruhn …“ | |
In diesem Moment war ganz klar, was ein Gedicht ist oder zumindest sein | |
kann, ein Gefühlsspeicher, eine Unmittelbarkeit, eine Form der | |
Näheherstellung. Das war ein bewegender Augenblick. | |
22 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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