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# taz.de -- Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger: Zeitlebens heiteres Kind
> Hans Magnus Enzensberger ist gestorben. Er hatte eine Ader fürs
> Spielerische im besten Sinn und war ein ganz und gar geistesgegenwärtiger
> Autor.
Bild: Hans Magnus Enzensberger, Aufnahme von 1993
„Spielen Schriftsteller eine Rolle? – Das ist zu befürchten.“ So begann …
erste der vier Frankfurter Poetikvorlesungen, die Hans Magnus Enzensberger
1964/65 gehalten hat. Dass der damals gerade 34-Jährige mit dieser
Eröffnung auch von sich selbst sprach, versteht sich, auch wenn er im
weiteren Fortgang der Vorlesung alle denkbaren Rollenzuweisungen für
Schriftsteller ablehnt.
Dieser Autor aber hatte von Beginn an kaum eine andere Möglichkeit, als
eine Rolle zu spielen, und die erste hieß „zorniger junger Mann“. Was die
Briten hatten, damals in den fünfziger Jahren, hatte die alte
Bundesrepublik spätestens 1957 mit dem Gedichtband „verteidigung der wölfe�…
auch, noch dazu in avantgardistischer Kleinschreibung, gefolgt von
„landessprache“ mit dem berühmten Titelgedicht.
Als der zornige junge Mann sich nach seiner frühen Lyrik auch mit
brillanten Essays zu Wort meldete, 1962 in dem Band „Einzelheiten“
zusammengefasst, besetzte er das Fach des „kritischen Intellektuellen“, und
zwar lange Zeit auf einsamer Höhe. Das hat er bis zuletzt nicht verlassen,
mag sich später der eine oder andere auch zu ihm gesellt haben.
Hans Magnus Enzensberger führte, wie es sein erster Biograf Jörg Lau im
Untertitel seines Buches treffend formulierte, fast von Beginn an „ein
öffentliches Leben“, auch wenn dieses paradoxerweise in der Grauzone des
Schwarzmarkts begann, auf dem der Jugendliche in den Nachkriegsjahren aktiv
war.
## Angebliche Selbstinszenierung
Aus diesem öffentlichen Leben hat man oft und gern falsche Schlüsse gezogen
und aus diesen Schlüssen Vorwürfe formuliert. Der eine betrifft die
angebliche Selbstinszenierung des Autors. Derer hat es aber gar nicht
bedurft, denn über Hans Magnus Enzensberger ist so viel geschrieben, gesagt
und getratscht worden, dass er selbst sich mit Wortmeldungen zur eigenen
Person weitgehend zurückhalten konnte.
Das Gerücht etwa von „seiner jahrelangen Tätigkeit als Ratgeber bei Fidel�…
Fidel Castro also, entstammt nicht eigenen Aussagen, sondern Lars
Gustafssons Roman „Herr Gustafsson persönlich“, der als Roman natürlich am
Mythos arbeiten durfte.
Doch selbst ein so kluger Essayist wie Christian Linder beschrieb
Enzensberger in einem Porträt aus dem Jahr 1975 als jemanden, der vor allem
mit seinem eigenen Mythos beschäftigt und dem die ganze Welt dazu nur
Anlass gewesen sei: ganz so, wie Carl Schmitt es in seinem
Occasionalismus-Vorwurf gegen die Romantiker beschrieben hatte.
## Plädoyer für Hauslehrer
Diese These hält einer Überprüfung der zahlreichen Texte Enzensbergers und
[1][namentlich der Essays] nicht stand. Die Mehrzahl von ihnen weist einen
deutlichen Realitätsbezug und eine ebenso deutliche
Unterscheidungsfähigkeit zwischen Innenwelt und Außenwelt auf, ob es sich
nun um das nach wie vor sehr lesenswerte „Plädoyer für den Hauslehrer“
handelt oder die „Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang“.
Dass der eine oder andere Schuss daneben ging, wie bei seiner
Charakterisierung Saddam Husseins, ist ebenso verzeihbar wie der
harmlos-reaktionäre Tenor jenes „Nekrologs auf die Mode“, der 1993 in der
Neuen Zürcher Zeitung erschien und niemandem wehtat.
Aber der schwerer wiegende Vorwurf, den man ihm gemacht hat, war ja der des
Opportunismus und des ständigen Standpunktwechsels. Die Studentenbewegung
etwa konnte ihm nicht verzeihen, dass er nicht mit roter Fahne ihren
karnevalesken Umzügen durch den Wedding oder Neukölln vorangeeilt ist. Doch
für alle kollektiven Räusche war dieser Autor schon seit seiner Kindheit,
die er in der Stadt der Reichsparteitage verbrachte, verloren.
## Das Land bewohnbar machen
„Ich bin keiner von uns“, lautet eine seiner berühmtesten Zeilen (aus dem
Gedicht „Schaum“), und es ist eine vergröbernde Lesart, dies als Variation
auf Brechts „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“ zu
entziffern. Denn davon abgesehen, dass Standpunkte per se unfruchtbare,
weil statische Verortungen sind und Meinungen reichlich irrelevant, war die
zuweilen hinter dem Opportunismusvorwurf lauernde Anklage des „Verrats“
absurd. Im Gegensatz etwa zu manchem prominenten Ex-68er hat Hans Magnus
Enzensberger zeit seines Lebens darauf bestanden, 1968 habe „dieses Land
erst bewohnbar gemacht“.
Vielleicht ist ja allein die Aussage, dieses Land sei bewohnbar, einem
gestandenen Fundamentalisten ein Dorn im Auge. Zu den durchgehenden
Haltungen von Hans Magnus Enzensberger – ja, die gab es! – gehörte jedoch
die Abneigung gegen Fundamentalismen aller Art ebenso wie eine mit den
Jahren ständig wachsende Menschenfreundlichkeit gegenüber den sogenannten
normalen Menschen, zu denen er selbst gewiss nicht gehörte.
Dass er die Tendenzen der Zeit oft sehr früh erkannt hat, dem Zeitgeist
also vorausgeeilt und ihm nicht hinterhergejagt ist, lässt sich schwerlich
als Opportunismus denunzieren. Vielmehr hat das etwas mit wacher
Intelligenz und analytischer Begabung zu tun, zwei seiner
hervorstechendsten Merkmale. Das dritte war das, was Henning Marmulla in
seiner gründlichen Studie zur Geschichte des Kursbuchs Enzensbergers
Internationalismus genannt hat und was man ruhig auch seine Weltläufigkeit
nennen könnte.
## Großintellektueller und Gründer
Seine berühmten Zeit- und Generationsgenossen, [2][von Grass über Walser
bis zu Johnson,] waren doch sehr schwerblütig-deutsch, in ihrem Habitus
ebenso wie in ihrer Schreibweise. Der Lyriker Hans Magnus Enzensberger
dagegen bewegte sich nach eigenem Bekunden in der „Weltsprache der modernen
Poesie“. Und er bewegte sich tatsächlich auf internationalem Parkett mit
einer Selbstverständlichkeit, die dazu beigetragen hat, dass er im Ausland
schon sehr früh als der deutsche Intellektuelle galt.
Indes hieße es seine Bedeutung verkürzen, würde man ihn auf diese Figur des
Großintellektuellen und des Gründers von zu ihrer Zeit bedeutenden
Zeitschriften wie dem Kursbuch oder der TransAtlantik reduzieren.
Enzensberger war auch ästhetisch außerordentlich wichtig, weil er inmitten
des Siegeszugs des guten alten Romans der Vertreter anderer, gebrochenerer
und intelligenterer Formen war.
Selbst seine beiden Romane, „Der kurze Sommer der Anarchie“ und
„Hammerstein oder der Eigensinn“, hatten mit jener biederen Romanprosa, die
bei uns zu gleicher Zeit mit Buchpreisen bedacht wurde, nichts zu tun. Sie
waren vielmehr gelungene Belege für die These, die der Autor in seinem
Essay „Nomaden im Regal“ aufgestellt hatte: „Es sieht ja ganz so aus, als
könnten es mit einer zunehmend hybriden Welt nur noch hybride Texte
aufnehmen.“ Von solchen gelungenen Hybriden, die nicht nur die Herzen,
sondern auch die Köpfe der Leser ansprachen, verdanken wir ihm einige.
## Untergang der Titanic
In einem Interview aus dem Jahr 1995 hat er auf die Frage nach seiner
bedeutendsten Schöpfung das Langgedicht „Der Untergang der Titanic“
genannt. Oft schätzen Autoren die Gewichtung und Bedeutung ihres eigenen
Werks fundamental falsch ein. Auch hier bildete Enzensberger eher die
Ausnahme, denn liest man diesen großen Gesang noch einmal, in seiner
formalen Souveränität und der ganzen Vielfalt von der Klage und Trauer über
die Ironie und unverblümte Komik bis zu nüchterner Gegenwärtigkeit, kann
man sich seiner Selbstbeurteilung wohl anschließen.
Was das lyrische Werk angeht (das in der Rezeption ungerechtfertigterweise
zunehmend in den Hintergrund getreten ist), müsste man dem Titanic-Gedicht
allerdings jene 37 Balladen aus der Geschichte des Fortschritts zur Seite
stellen, die drei Jahre zuvor unter dem Titel „Mausoleum“ erschienen waren.
Eine der schönsten Balladen aus diesem Band, diejenige über Frédéric
Chopin, beginnt mit der Feststellung: „Ein heiteres Kind: soviel wissen
wir.“
Das ließ sich von diesem Autor bis ins hohe Alter sagen. Hans Magnus
Enzensberger war ein Autor mit einem Sinn fürs Spielerische im besten Sinn,
und er war ein ganz und gar gegenwärtiger, ja geistesgegenwärtiger Autor.
Ihm darf man – bei aller Eitelkeit, die jedem Schriftsteller eigen ist –
deshalb unbesehen glauben, was er 1998 Herlinde Koelbl in einem Interview
auf die Frage gesagt hat, wie er denn in Erinnerung bleiben möchte: „Die
Nachwelt ist nicht meine Sache. Das sollen die Nachkommen unter sich
ausmachen.“
Aber gerade weil er so gegenwärtig, so ganz und gar Zeitgenosse war, könnte
es sein, dass wir, die Nachkommen, seine Stimme sehr schnell vermissen
werden, vielleicht schon ab diesem Moment. Am 24. November ist Hans Magnus
Enzensberger im Alter von 93 Jahren in München gestorben.
25 Nov 2022
## LINKS
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[2] /Nachruf-Guenter-Grass/!5012763
## AUTOREN
Jochen Schimmang
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Michael Rutschky
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