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# taz.de -- Recherche zu einem Enzensberger-Gedicht: Die verwunderte Gitarre
> Der Autor dieses Textes zitierte ein Gedicht falsch. Oder doch nicht? Auf
> jeden Fall wird er „Schläferung“ von Hans Magnus Enzensberger nie
> vergessen.
Bild: Wie verwundert ist dieses Holz? Und kann man darin schlafen?
Alles fing damit an, dass Ulrich Enzensberger an der Straße ein Buch liegen
sah, wie es in Berlin manchmal zum Mitnehmen irgendwo hingelegt wird,
„Lieblose Legenden“ von Wolfgang Hildesheimer. Er nahm es mit und fand
darin ein Gedicht seines verstorbenen älteren Bruders Hans Magnus
Enzensberger zitiert, das Gedicht „Schläferung“ nämlich.
Und als Suhrkamp in der Repräsentanz des Verlags an der Berliner Rehwiese
eine Gedenklesung für Hans Magnus Enzensberger veranstaltete, stand Ulrich
Enzensberger am Schluss der Lesung auf, trat ans Mikrofon und las dieses
Gedicht vor. Das war ein bewegender Moment.
Ich kannte das Gedicht da noch nicht, besaß auch noch nicht den
Hildesheimer-Band und hatte mir nur schnell „Schläferung“ und vom Hören d…
Fragmente „Lass mich ruhn“ und „meine zerbrochenen Hände“ notiert. Mit
diesen Stichwörtern googelte ich am nächsten Vormittag herum und fand das
Gedicht tatsächlich schnell auf der Website Planetlyrik.de.
Ich schrieb [1][einen kleinen Text] über die Veranstaltung, zitierte darin
den Anfang des Gedichts, so wie ich ihn im Internet gefunden hatte – „lass
mich heut nacht in der gitarre schlafen / in der verwundeten gitarre der
nacht / lass mich ruhn …“ –, und glaubte, damit hätte die Sache sein
Bewenden.
Hatte es aber nicht. Leserinnen und Leser meldeten sich per Mail. Wie ich
auf „verwundete gitarre“ kommen würde? Sie hätten in den „Lieblosen
Legenden“ nachgesehen, da stünde „verwunderte gitarre“, mit „r“. Wo …
der Fehler vorliegen würde? Und auch Ulrich Enzensberger ließ über den
Suhrkamp-Verlag erstaunt wissen, dass er doch eindeutig „verwundert“
vorgelesen habe.
## Gibt es verschiedene Fassungen?
Ein bisschen hektisch googelte ich wieder, vielleicht hatte ich mich ja
verguckt. Auf Planetlyrik.de heißt es aber eindeutig „verwundet“, ohne „…
Und die FAZ, in der Andreas Platthaus über den Enzensberger-Abend bei
Suhrkamp geschrieben hat, zitiert auch „verwundet“. Ich habe mir dann also
flugs Hildesheimers „Lieblose Legenden“ antiquarisch besorgt, die
tatsächlich 20. (!) Auflage von 1991 der 1962 überarbeiteten Ausgabe in der
Bibliothek Suhrkamp – und wirklich: Auf Seite 153 steht „in der
verwunderten gitarre der nacht“, nicht „verwundet“. Tja.
Die Website Planetlyrik.de wird von Egmont Hesse betrieben. Er reagierte
auf einen Facebook-Post von mir, in dem ich kurz auf das fehlende „r“
hingewiesen hatte. Der Beitrag auf der Website mit dem Gedicht
„Schläferung“ stamme aus dem „Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007“ und …
von Michael Braun dem Enzensberger-Band „Gedichte 1950–1995“ entnommen
worden, schrieb Hesse in seiner öffentlichen Antwort auf Facebook. Und er
überlegte, ob es eventuell verschiedene Fassungen dieses Gedichts geben
würde.
Michael Braun kannte ich natürlich. Der Lyrik-Fachmann schrieb auch für die
taz. Nur leider ist er im vergangenen Dezember gestorben. Den
Enzensberger-Band „Gedichte 1950–1995“ hatte ich nicht zu Hause, wohl aber
den Band „Gedichte 1950–2020“, Hans Magnus Enzensberger hat die Sammlung
mehrfach umsortiert und neu herausgebracht. In dem Band „1950–2020“ findet
sich die „Schläferung“ allerdings nicht.
Ich rief beim Suhrkamp-Verlag an. Freundlicherweise schaute man dort in dem
anderen Sammelband nach. Auch im Band „Gedichte 1950–1995“ findet sich
keine „Schläferung“, wohl aber natürlich in dem Gedichtband „verteidigu…
der wölfe“, in dem es auch zuerst erschienen ist, und zwar mit „r“: „i…
verwunderten gitarre der nacht“.
## Der Lektor meldet sich
Außerdem meldete sich auf meine Anfrage hin netterweise Wolfgang Kaußen,
der Lektor von Hans Magnus Enzensberger, per Mail. Er hatte auch noch in
dem Sammelband Hans Magnus Enzensberger „Die Gedichte“ von 1984
nachgeschlagen: In ihm ist die „Schläferung“ enthalten, mit dem Vers „in
der verwunderten Gitarre“; außerdem in dem Band „Gedichte 1950–2005“: …
„Schläferung“; auch in dem Band „Gedichte 1955–1970“: keine Schläfe…
aber wieder im Band „Gedichte. Die Entstehung eines Gedichts“ mit dem
Nachwort von Werner Weber aus dem Jahr 1962: „Schläferung“ enthalten, mit
dem Wortlaut „in der verwunderten gitarre“.
Das Ergebnis ist also eindeutig: Es muss wohl „verwunderte gitarre“ heißen,
auf eine andere Fassung gibt es keinen Hinweis. Schließlich rief ich noch
bei dem Verlag Das Wunderhorn an, der den „Lyrikkalender 2007“ als
Druckerzeugnis herausgebracht hat, hilfsbereit schickten sie mir ein PDF
der betreffenden Seite.
Tatsächlich steht da unter dem Datum 4. Dezember 2007 die „Schläferung“, …
wie sie auf Planetlyrik.de ins Netz gestellt ist, und zwar gleich zweimal
ohne „r“. Im zweiten Vers heißt es „in der verwundeten gitarre“ und im
siebten Vers „meine verwundeten hände“, wo es bei Hildesheimer
„verwunderten hände“ und in der „verteidigung der wölfe“ mit Großsch…
„verwunderten Hände“ heißt. Und als Angabe steht am Fuß der
Lyrikkalender-Seite „aus: Gedichte 1950–1995“, was allerdings falsch ist.
## Ein Augenblick der Trauer
Was ist da geschehen? Fehler passieren. Aber gleich derselbe Fehler zweimal
hintereinander? Und dann der falsche Nachweis. Michael Braun war ein
gewissenhafter Literaturkritiker, für die Lyrik setzte er sich ein mit
allem, was er hatte. Es ist wirklich sehr schade und erzeugte auch einen
Augenblick von Trauer, dass ich ihn nicht mehr fragen kann.
So ist das Ergebnis dieser Recherche ein bisschen unbefriedigend. Doch das
Gedicht „Schläferung“ werde ich wohl erst einmal eine Zeit lang nicht
vergessen können. Zumal es mir abschließend nicht gelungen ist, [2][das
Hörbuch] „Das somnambule Ohr“, in dem Hans Magnus Enzensberger
„Schläferung“ selbst liest, nicht zu kaufen. Während er den Buchstaben �…
an den anderen vorkommenden Stellen stark betont, verschleift er ihn an den
Stellen „in der verwunderten gitarre“ und „meine verwunderten hände“
tatsächlich ein bisschen. Fast könnte man „verwundet“ heraushören.
Hatte Michael Braun das im Ohr? Oder taucht doch noch eine andere Fassung
des Gedichts ohne „r“ irgendwo auf? Eine historisch-kritische
Enzensberger-Ausgabe, so erfuhr ich noch, ist noch nicht in Arbeit;
immerhin sei das nötige Material dazu bereits zu Enzensbergers Lebzeiten im
Literaturarchiv [3][in Marbach] eingelagert und gepflegt worden.
Das Gedicht selbst ist übrigens ganz großartig. Hier die Fassung aus den
„Lieblosen Legenden“, die Ulrich Enzensberger vorlas:
laß mich heut nacht in der gitarre schlafen
in der verwunderten gitarre der nacht
laß mich ruhn
im zerbrochenen holz
laß meine hände schlafen
auf ihren saiten
meine verwunderten hände
laß schlafen
das süße holz
laß meine saiten
laß die nacht
auf den vergessenen griffen ruhn
meine zerbrochenen hände
laß schlafen
auf den süßen saiten
im verwunderten holz
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags
1 Jul 2023
## LINKS
[1] /Gedenklesung-fuer-Enzensberger/!5942434
[2] /Hoerbuecher-in-der-Pandemie/!5761656
[3] /Dichterhochburg-Marbach/!5600965
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Literatur
Lyrik
Hans Magnus Enzensberger
Suhrkamp
Gitarre
Schwerpunkt #metoo
Schriftsteller
ZDF
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