# taz.de -- Tagebücher eines Publizisten: „Ich nehme den Wildtopf Diana“ | |
> Die Tagebücher des Essayisten Michael Rutschky bieten ein großartiges | |
> Sittenbild der westdeutschen Intelligenz in den frühen achtziger Jahren. | |
Bild: Michael Rutschky, 1979 | |
„Was also sollen wir damit anfangen? Der nun doch schon sehr alte Mann hat | |
das Tagebuch veröffentlicht, das er seit 1965, als er 70 Jahre alt wurde, | |
führt. Sollen wir einfach die Finger davon lassen? Aber das ist bei dem | |
Mann und seinen Schriften ja immer schwergefallen.“ Mit diesen Worten | |
eröffnete Michael Rutschky 1981 seine Besprechung von Ernst Jüngers | |
Alterstagebüchern im Spiegel. In mäandrierenden Sätzen, die seinen Stil | |
sofort erkennbar machen, wog er die Reaktionen Jüngers auf den Zeitgeist | |
von 68 ab. | |
Wie wir jetzt erfahren, hat Rutschky damals selbst ein Tagebuch geführt. | |
Der mit drei Jahrzehnten Verzögerung veröffentlichte Teil, | |
„Mitgeschrieben“, umfasst den Zeitraum von 1981 bis 1984. Es fällt schwer, | |
die Finger davon zu lassen. Nebst Fragmenten eines Sittenbildes der | |
westdeutschen Intelligenz an der Schwelle zur Kohl-Ära enthält das Buch | |
eine Tragikomödie des Autors an der Schwelle zum Erfolg. | |
Zu Beginn des neuen Jahrzehnts war Rutschky mit seinem Essay über die | |
siebziger Jahre, „Erfahrungshunger“, bekannt geworden. Daraufhin hatte ihn | |
Hans Magnus Enzensberger als Redakteur zu Transatlantik geholt. | |
## Ethnografie des Alltagslebens | |
Der Versuch, ein Magazin nach dem Vorbild des New Yorker zu machen, das | |
ebenso investigativen Journalismus wie Literatur und Lifestyle kann, ist | |
das publizistische Ereignis der Saison. Die Startauflage beträgt 150.000 | |
Exemplare. Und Michael Rutschky ist dabei. Nebenbei schreibt er für den | |
Spiegel, ist gut bezahlter Fernsehautor und gibt seine Jahresberichte bei | |
Suhrkamp heraus. | |
Nach dem Ende der großen Erzählungen könnte seine Ethnografie des | |
Alltagslebens das nächste große Ding werden. Er legt sich einen hellen | |
Boss-Anzug zu. Für Interviewtermine in Frankfurt oder Hamburg nimmt er die | |
Lufthansa-Maschine. Der Flug dauert gerade lang genug, um ein paar | |
Zigaretten zu rauchen und den Kulturteil der Süddeutschen Zeitung daraufhin | |
zu überprüfen, ob irgendwo sein Name fällt. | |
Wie wenige Autoren hat Michael Rutschky sein eigenes Idiom erfunden. Mit | |
dem Versuch, das Genre seiner Texte zu bestimmen, tun sich die Kritiker bis | |
heute schwer. Sie sind irgendwo zwischen Literatur und Theorie angesiedelt; | |
ebenso persönlich ausschweifend wie auf soziologische Aufklärung aus. Die | |
zarte Begriffsbildung verrät den Adorno-Schüler. Doch kommt er ohne Adornos | |
Hermetik aus. | |
Rutschkys Essays sind von Figuren bevölkert, die reale Vorbilder haben. Die | |
Einsichten, die er ihnen abgewinnt, stellen sich aber erst durch | |
Fiktionalisierung ein. In seinen Tagebüchern wendet er seine bewährte | |
Methode auf sich selbst an. Aus dem „Ich“ des laufend Mitgeschriebenen wird | |
in der überarbeiteten Form das „R.“ für Rutschky. R., der derartig vom | |
Autor unterschiedene Protagonist dieser filigranen Beobachtungen, ist ein | |
Bewohner der intellektuellen Welt. | |
## Studium TV-Programm | |
Zusammen mit seiner Frau, der Publizistin Katharina Rutschky, steht er im | |
Mittelpunkt eines Münchner Bekanntenkreises, zu dem etwa Peter Sloterdijk, | |
der Merkur-Redakteur Kurt Scheel und Rainald Goetz gehören. Man trifft sich | |
zum Fernsehen und zur gemeinsamen Theorielektüre. | |
Jeden Donnerstag studieren die Rutschkys im Stern das wöchentliche | |
TV-Programm. Ihre Theorie-Diät besteht in diesen Jahren aus Habermas, | |
Nietzsche und Walter Benjamin: „Es müssten doch, sagt Scheel, vom Text auf- | |
und in die Runde des Lesezirkels blickend, auch gegenwärtig ‚dialektische | |
Bilder’ zu entdecken sein … Willy Brand zum Beispiel, sagt R., einer der | |
letzten Konservativen, einer der letzten Patrioten, den seine Gegner als | |
Linksradikalen und Vaterlandsverräter ansehen. Oder diese wilhelminischen | |
Großstadthäuser, die von jungen Anarchisten besetzt werden, damit sie | |
erhalten bleiben.“ | |
## Tribut der Nacht | |
Die große Währung der Begriffe in der kleinen Münze der laufenden | |
Ereignisse auszugeben – das gehörte schon immer zu den Stärken des Autors | |
Rutschky. Vermutlich verdankt sich diese Virtuosität jahrelanger Übung in | |
diversen Lesegruppen. Nach Benjamin kommt Luhmann an die Reihe. Bei einigen | |
Mitgliedern fordert das ausschweifende Nachtleben seinen Tribut. | |
Ausgerechnet Rainald Goetz, der Luhmann in diesen Jahren als theoretische | |
Hauptreferenz entdeckte, „sitzt zusammengekrümmt auf dem Küchenstuhl, den | |
Fuß im Schoß, die Arme auf die Oberschenkel gestützt, den Kopf gesenkt. Er | |
schläft.“ | |
Im Vergleich zu heute fallen die Promiskuität und die entspannte | |
Arbeitsmoral ins Auge. Wir befinden uns in der Zeit, als das Trinken noch | |
geholfen hat. Akribisch protokolliert Rutschky, was er als seinen | |
Alkoholmissbrauch versteht: „Den einen Tag verbringt R. verkatert und | |
voller Reue, sodass er abends einigermaßen nüchtern schlafen gehen und den | |
nächsten Tag frei von Depressionen verbringen kann; am Abend dieses Tages | |
aber erlaubt er sich ungehemmten Alkoholismus.“ Worauf der Zyklus von vorn | |
beginnt. | |
In „Wartezeit“, das im Berichtszeitraum entsteht und an den Erfolg von | |
„Erfahrungshunger“ anknüpfen soll, macht sich Rutschky seine Beobachtungen | |
zunutze, um einen Seitenhieb gegen Habermas zu führen: Seine kleine Theorie | |
gilt nicht den Normen, sondern den körperlichen Möglichkeitsbedingungen der | |
Kommunikation. | |
Dabei erweisen sich Tabak und Weißwein als unbedingt erforderlich. | |
„Nicht-Trinken macht traurig, gefräßig, dick und dumm“, stellt auch Raina… | |
Goetz in diesen Jahren fest. „Schon-Trinken hingegen macht im Gegenteil, | |
also gut und kaputt.“ | |
## Erotische Faszination | |
Neben Rutschky und dessen Frau gehört ein kaum bekannter junger Goetz, der | |
auf sein Umfeld eine große, auch erotische Faszination ausübt, zu den | |
Hauptfiguren dieses Buchs. Sie verabreden sich zum „Tatort“, fahren | |
zusammen zur Buchmesse nach Frankfurt und tauschen frühe Liebesgeschichten | |
aus. Der Spiegel will ihn als Redakteur. Gaston Salvatore, Enzensbergers | |
Kompagnon bei Transatlantik, versucht vergeblich, ihn ins Bett zu kriegen. | |
Rutschky selbst wiederum ist davon überzeugt, dass Goetz seine Frau | |
begehrt. Er fördert den zehn Jahre Jüngeren und bewundert die Nowness von | |
dessen sprachlicher Sensibilität: „Die Prägnanz, die ein Schweinekotelett | |
annimmt, wenn Goetz es ‚Gerät‚ nennt.“ | |
Goetz büffelt für sein letztes Medizinexamen und schreibt parallel an | |
seinem Debütroman „Irre“. Im Frühjahr 1983 erlebt er seinen literarischen | |
Durchbruch, als er sich beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt die Stirn | |
aufritzt. Zu behaupten, Rutschky habe ihm seinen Ruhm nicht gegönnt, ginge | |
an der Sache vorbei. Doch reagiert er beklommen: Goetz hatte ihn vorher | |
nicht in seine Pläne eingeweiht. | |
Die Episode berührt insofern einen neuralgischen Punkt, als die | |
biografische Sinneinheit, die die Jahre von 1981 bis 1984 zusammenhält, | |
Rutschkys eigene Erfolgskurve bildet, die in diesem Zeitraum einen | |
existenziellen Wendepunkt durchläuft: Am Ende ist er freier Autor, landet | |
aber doch nur in der Semiprominenz. | |
## Geheime Wünsche | |
Nach seinem gefeierten Debüt hatte es eingangs durchaus nach mehr | |
ausgesehen. In seinen Träumen lebt der psychoanalytisch geschulte | |
Transatlantik-Redakteur seine geheimen Wünsche aus: Der Spiegel bringt eine | |
Meldung über die Rutschkys in seiner Society-Spalte; kein Geringerer als | |
der neue Bundeskanzler Helmut Kohl bestellt bei R. ein Redemanuskript … | |
Doch während nachts die Größenfantasien regieren, wird der Redaktionsalltag | |
von Rutschkys Kleinmut dominiert. Die Bogenhausener Villa entpuppt sich als | |
Mikrokosmos voller Tücken. Wer wie mit wem spricht oder mit welcher | |
Nonchalance der „hohe Herr“ Gaston Salvatore gelegentlich bei seinen | |
Untergebenen vorbeischaut: Darüber liegen in diesem Tagebuch wunderbar | |
präzise und zum Teil sehr komische Beobachtungen vor. | |
Wenn Enzensberger kommt, traut sich Rutschky vor Befangenheit kaum aus | |
seinem Büro heraus. Wenn er sich ein Bier aus der Küche holt, hat er Angst, | |
als Alkoholiker dazustehen. Die genauen Umstände seiner Kündigung belässt | |
der Diarist im Dunkeln. Irgendwie will er weg, und irgendwie sind seine | |
Vorgesetzten froh darüber. Dass es mit Enzensberger nicht geklappt hat, | |
hängt ihm noch lange nach. | |
## Szenen einer intellektuellen Ehe | |
Es folgt die Chronik einer beruflichen Entschleunigung und eines Rückzug | |
ins Private: Szenen einer intellektuellen Ehe, in die man sich als Leser | |
unmöglich nicht verlieben kann. Nur wenn wir die Rutschkys auf lange | |
Ausflüge ins bayerische Umland begleiten, setzt sich der Alltagsethnograf | |
über seine Regel, nur Signifikantes aufzuzeichnen, hinweg: „Ich nehme den | |
Wildtopf Diana.“ – „Und ich das Rumpsteak mit Kräuterbutter.“ | |
Nach Jahren der Festanstellung plagen Rutschky Existenzängste. „Überhaupt | |
deuten alle Zeichen seit Urzeiten auf Misserfolg.“ Die Befürchtungen | |
bewahrheiten sich, als „Wartezeit“ bei den Kritikern floppt. Im Frühjahr | |
1984 streichen die Rutschkys ihre Segel und gehen von München nach Berlin | |
zurück. Kurz darauf erleidet der Autor einen Herzinfarkt. | |
Von Orson Welles stammt die Einsicht, die Moral einer Geschichte hänge | |
davon ab, an welcher Stelle man ihr Ende setzt. Rutschkys Zusammenbruch | |
scheint sein Scheitern zu besiegeln. Doch könnte er ebenso der Anfang von | |
etwas Neuem sein. Im Sanatorium, als Rutschky „Derrick“ zum ersten Mal in | |
Farbe sieht und über das Kranke des Teints von Horst Tappert räsoniert, | |
wirkt er jedenfalls schon beinah wieder gesund. | |
1 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Philipp Felsch | |
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