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# taz.de -- Tagebücher von Jules Renard: Niemals aufrichtig sein
> Sagt Jules Renard der Gegenwart noch etwas? Seine Tagebücher bieten
> rätselhafte Geistesblitze. Nun sind sie in einer Auswahl neu erschienen.
Bild: Er haderte gern mit der eigenen Faulheit: Jules Renard
Wenn Ambrose Bierce das Führen eines Tagebuchs in seinem „Wörterbuch des
Teufels“ gewohnt spöttisch als „Tägliche Aufzeichnung jener Teile eines
Lebens, die man sich selbst ohne zu erröten anvertrauen kann“ definiert,
könnte Jules Renard ihm vermutlich beipflichten. Zumindest notiert er in
seinem Tagebuch am 21. November 1906: „Ich bin nicht aufrichtig, und ich
bin es auch dann nicht, wenn ich behaupte, es nicht zu sein.“
Allerdings handelt es sich bei Renards Tagebüchern weder um eine
konventionelle Chronik, in der festgehalten wird, was der Tag einem so
zuträgt, noch um literarische, auf Öffentlichkeit zugeschnittene Prosa à la
Max Frisch, durchaus aber um Konfessionen, deren Verfasser mit sich ringt,
das heißt gerade mit jenen Teilen des Lebens, die erröten machen.
Immer wieder hadert der erfolgreiche und renommierte französische
Schriftsteller mit seiner notorischen Faulheit, seiner Sehnsucht, allein zu
sein, oder dem Zustand seiner Ehe: Wenn er seine Gattin (deren wohlhabender
Herkunft er seine ökonomische Unabhängigkeit verdankte) refrainartig als
die einzige echte Liebe seines Lebens hinstellt, wirkt das fast wie die
Beschwörung eines Wunschdenkens.
Im Übrigen gibt es gelegentlich so etwas wie Szenetratsch, kleine Porträts
zeitgenössischer Prominenz: Rodin, die Brüder Goncourt, die bewunderte
Sarah Bernhardt, Toulouse-Lautrec, dazu manche, die uns Heutigen nicht mehr
viel sagen.
Sagt uns Renard noch etwas? Hinterlassen hat der 1864 geborene und 1910
jung verstorbene Autor Theaterstücke, kurze Prosa, ein paar Romane. Einer,
der autobiografische Kindheitsroman „Poil de Carotte“ („Rotfuchs“), war…
Frankreich bis in die 1960er Jahre Schullektüre.
## Originalmanuskripte verbrannt
Renard, der sich neben der Schriftstellerei kommunalpolitisch engagierte,
unter andrem als Bürgermeister seines neben Paris zweiten Wohnorts
Chitry-les-Mines in Burgund, gehört zu den Figuren, die mit etwas
überdauern, das ihnen eigentlich nicht sehr wichtig war, in diesem Fall den
Tagebüchern beziehungsweise dem, was von ihnen geblieben ist. Denn, wie es
immer mal vorzukommen pflegt, Renards Witwe hat die Originalmanuskripte
verbrannt, Henri Bachelin als erster Herausgeber des Journals hat das, was
übrigblieb, stark redigiert.
Die Frage, wie ursprünglich das ist, was uns heute als Renards Diarium
vorliegt, wird sich wohl nie beantworten lassen. Es ist immerhin sehr viel:
Fünf Bände umfasst die zwischen 1925 und 1927 veröffentlichte französische
Originalausgabe, die deutsche Auswahl, die in der vorliegenden Form bereits
1986 erschienen und nun, versehen mit angemessen abgründigen
[1][Illustrationen von Nikolaus Heidelbach,] erfreulicherweise wieder
aufgelegt worden ist, bietet nur ein homöopathisches Kondensat: minimal,
aber hoch konzentriert.
Denn das, was den Charme dieser „Tagebücher“ ausmacht, ist nicht das
vorhandene Tagebuchhafte, eher muss man die Notate mit anderem vergleichen,
etwa mit Lichtenbergs berühmten „Sudelbüchern“: „Wie hat es Ihnen in di…
Gesellschaft gefallen? Antwort: Sehr wohl, beinah so sehr als auf meiner
Kammer“, heißt es dort, „In Gesellschaft die eigene Langeweile mit jener
der anderen multiplizieren“, bei Renard, der diese Gesellschaft
unbarmherzig beobachtete und beschrieb.
## Reinheit der Seele
Renard war ein linksbürgerlicher Moralist, „skrupulös bis zum Zwanghaften,
bis zur Selbstquälerei“ (Hannes Grössel). Seinen Idealen „Reinheit der
Seele“ und „Reinheit des Stils“ konnten weder seine Umwelt noch er selbst
gerecht werden, als Ventil blieb nur Ironie: „Immer noch sarkastisch. Drei
Schritte auf die Straße, und ich werde unerträglich. Zum Glück gehe ich
nicht oft aus.“ Es ist ein Sarkasmus, der dem des Ambrose Bierce ebenbürtig
ist: „Unsere Güte, das ist unsere Bosheit, die schläft“, schreibt Renard
misanthropisch.
Eine weitere sich anbietende Referenzgröße sind die sogenannten
„Greguerías“ des spanischen Autors Ramón Gómez de la Serna, winzige
Aperçus, die in einer poetischen Synthese Metapher und Definition vereinen:
„Der Traum ist ein Depot für verlorene Gegenstände“, heißt es da. Oder:
„Das T ist der Hammer des Alphabets.“
In dieser heiklen Disziplin übt sich auch Renard, gelegentlichen Platitüden
(„Wenn man auf nichts mehr zählen kann, muss man mit allem rechnen“) steht
eine Fülle rätselhafter Geistesblitze gegenüber: „Sich die Hände reiben w…
eine Fliege“; „Für die Kinder Jagdgeschichten aufschreiben, die ein Hase
erzählt“; „Vielleicht gibt es Zweige, auf denen sich noch nie ein Vogel
niedergelassen hat“.
## Erstaunliches Lesevergnügen
So schnurrt es über die Seiten, Jahr um Jahr, beginnend 1887, endend wenige
Wochen vor seinem Tod am 22. Mai 1910. Die Qualitätsdichte ist erstaunlich,
das Lektürevergnügen entsprechend. Mit seinen Aphorismen hat sich Renard,
ohne davon etwas ahnen zu können, geschweige denn, es beabsichtigt zu
haben, große Bewunderung erschrieben: Sartre, Beckett, André Gide, Julian
Barnes bekannten sich als begeisterte Leser.
„Ist das ein süßer Mann! Dieses Tagebuch ist himmlisch. Von dem, was er so
hingekritzelt hat, könnten andere Leute leben“, schwärmte Kurt Tucholsky,
der seinerseits ein „Sudelbuch“ hinterlassen hat, in dem er zum Beispiel,
[2][Arno Schmidts „Kühe in Halbtrauer“] vorwegnehmend, notierte: „Wasser…
Halbtrauer (schlechte Suppe).“ Nun ja. Oder hat er da vielleicht Renard
kopiert, bei dem zu lesen ist: „Der Rabe: Er kommt vom Begräbnis zurück.
Die Elster trägt Halbtrauer.“
„Literaturkritik: nur Neuauflagen besprechen“, empfiehlt Jules Renard. In
seinem Fall eine sinnvolle Anregung: seine Tagebücher sind ein Haus- und
Lesebuch für (fast) alle Lebenslagen. Man kann davon eine ganze Weile
leben.
13 Jul 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Thomas Schaefer
## TAGS
Literatur
Schwerpunkt Frankreich
Tagebücher
Alltagsleben
Literatur
Die Wahrheit
Historischer Roman
Michael Rutschky
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