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# taz.de -- Neuer Roman von Adam Andrusier: Leidenschaft und Lebensangst
> Adam Andrusiers schöner Roman „Tausche zwei Hitler gegen eine Marilyn“
> handelt von Autogrammjägern. Und von einer modernen jüdischen Familie.
Bild: Nein, nicht die Echte: Ana de Armas als Marilyn Monroe
Er sei ja ein entschiedener Gegner des Schreibens von Autogrammen gewesen,
berichtet der ehemalige [1][Fußballprofi Ewald Lienen] in seiner
Autobiografie. Hätten ihn jugendliche Fans um seine Unterschrift gebeten,
habe er stattdessen einen aufklärenden „Dialog“ vom Zaun gebrochen: „Das,
was ich tue, ist doch nicht wichtiger als das, was deine Lehrer, euer
Bäcker oder dein Nachbar tun. Fragst du die auch nach einer Unterschrift?“
Kommt wohl auf den Nachbarn an.
Würden alle Prominenten dieser Welt Lienens kategorische Haltung teilen,
gäbe es Adam Andrusiers entzückendes Buch „Tausche zwei Hitler gegen eine
Marilyn“ nicht, worin der 1981 geborene Brite schildert, wie er nach
gescheiterter Pianistenkarriere zuerst Autogramm- und schließlich – als
Reaktion auf einen zunehmenden „Vorbehalt gegen die Mechanismen der
Sammelleidenschaft“ von Autogrammjägern – ein so renommierter
Autografenhändler wurde, dass [2][Zadie Smith] ihn zum Protagonisten eines
Romans machte.
In Andrusiers Debüt erfährt man interessante Dinge über die Gepflogenheiten
im Autogrammhandel: über die Frage, wie man an Adressen kommt (wird es
funktionieren, an „Frank Sinatra, USA“, zu schreiben?), über Messen, auf
denen getauscht wird, und über Extremsammler, die sich zum Beispiel auf die
Signaturen von Serienmördern spezialisiert haben, vor allem aber darüber,
wie unterschiedlich Stars mit dem lästigen Schreiben und Verschicken von
Autogrammen umgehen.
Von klein auf hat Adam Andrusier schöne und bittere Erfahrungen mit dem
Sammeln von Autogrammen gemacht – und nicht nur die nötigen Kompetenzen
erworben, um das Echte vom Falschen zu unterscheiden und so zum
erfolgreichen Händler zu werden, sondern auch den „Wert der Wahrheit“ zu
erkennen.
Das alles ist sehr unterhaltsam und erstaunlich, vor allem ist es sehr
geschickt, wie Andrusier die Stationen seiner Lebensgeschichte mit
einzelnen Anekdoten zu den Erfahrungen und zum Teil persönlichen
Begegnungen mit Prominenten verknüpft, von Sinatra über Miles Davis und
Boris Jelzin bis zu Monica Lewinsky. Und es ist doch nur Erzählanlass und
-oberfläche.
## Skurrile Macken
Denn eigentlich geht es Andrusier darum, die Geschichte einer modernen
jüdischen Familie in der britischen Diaspora zu schildern, vor allem den
Vater, einen erfolgreichen Londoner Finanzberater mit diversen skurrilen
Macken: harmlos, dass er es ist, der den Sohn auf den Pfad des
Autogrammsammelns führt, schon bedenklich sein Hang zum ständigen
Fotografieren der Familienmitglieder, deren Gesichter er dann mit den
Körpern berühmter Persönlichkeiten montiert.
Gänzlich neurotisch sein eigentliches „Hobby“: das Sammeln von Postkarten
europäischer Synagogen, die von den Deutschen zerstört wurden. Während die
Großeltern seiner Frau ermordet wurden, kam niemand seiner Vorfahren zu
Schaden, waren sie doch rechtzeitig nach England emigriert. Und doch sind
seine manischen Fixierungen auf den Nationalsozialismus als traumatische
Reaktionen, vielleicht Kompensationen von Lebensängsten, lesbar. Die
Familie wird an diesen extremen Manien zerbrechen.
Andrusier schildert diese Geschichte mit einem Humor, der in seiner
(Selbst)-Ironie und Schwärze Elemente dessen aufweist, was als „jüdischer
Humor“ gilt. Sehr Trauriges und sehr Komisches geht dabei auf beglückende
Weise eine Symbiose ein.
2 Apr 2023
## LINKS
[1] /Abschied-vom-FC-St-Pauli/!5858214
[2] /Zadie-Smiths-neuer-Roman-Swing-Time/!5442382
## AUTOREN
Thomas Schaefer
## TAGS
Literatur
Diaspora
Juden
Trauma
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Roman
Buch
Roman
Literatur
Historischer Roman
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