# taz.de -- Neuer Roman von Ulrike Draesner: Eine Folie um verletzte Körper | |
> Die Schriftstellerin Ulrike Draesner lässt in ihren Roman „Die | |
> Verwandelten“ Frauen erzählen, wie sich Gewalt in Körper und Seele | |
> festkrallt. | |
Bild: Ulrike Draesner im April 2023 im Literarischen Colloquium Berlin | |
„Wenn jemand spricht, wird es hell“, schreibt Ulrike Draesner am Ende | |
ihres neuen Romans „Die Verwandelten“, der einer der Favoriten [1][für den | |
Preis der Leipziger Buchmesse] ist. Er bildet den Abschluss ihrer Trilogie | |
um Krieg, Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert – nach ihrem 2014 für | |
den Deutschen Buchpreis nominierten Familienroman „Sieben Sprünge vom Rand | |
der Welt“ und dem 2020 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichneten | |
Künstlerporträt „Schwitters“. | |
Um das Dunkel der von Kriegen, Konflikten und Erschütterungen | |
überschatteten Zeiten über Sprache zu erhellen, braucht es viel Sprechen | |
und Erzählen. Hier beginnt das mit einer Anwältin namens Kinga Schücking, | |
die zur Generation der Babyboomer gehört. In Hamburg soll sie über die | |
Fallstricke des Erbrechts sprechen, denn weder das gütliche noch das | |
emotionale Erbe von Kriegskindern verspricht Vergnügen. Nach ihrem Vortrag | |
wird sie von einer „polnischen Hamburgerin“ angesprochen, die seltsam | |
wissend in ihrer Vergangenheit stochert. | |
Es dauert noch ein wenig, bis klar wird, dass Dorota Dombrowska mit Kinga | |
nicht nur das Schicksal teilt, mit einer unklaren Vergangenheit | |
aufgewachsen zu sein, sondern dass beide auch einen gemeinsamen Bezugspunkt | |
im polnischen Wrocław haben. | |
Um dorthin zu gelangen, muss die Erzählung in die Geschichte eintauchen, | |
zunächst zu Kingas Mutter Alissa, die als Vierjährige von Gerd und Gerda | |
Schücking adoptiert wurde. Das Münchener Nazi-Ehepaar gab Alissa einen | |
neuen germanischen Namen, Gerd und Gerda bekamen eine kleine Gerhild. Eine | |
erste unfreiwillige Verwandlung, die auf Alissas mutterlose Kindheit in | |
einem bayerischen Lebensborn-Heim zurückzuführen ist. | |
[2][Lebensborn war eine krude Nazi-Idee]: Alleinstehenden Frauen wurden | |
ihre Kinder weggenommen und stramme Nazis sollten sie zur nächsten, | |
ideologisch geschulten Kriegsgeneration heranziehen. | |
## Der nebulöse Seelenschmerz der Mutter | |
Der frühe Verlust der eigenen Herkunft und die Ahnungslosigkeit über die | |
Ursachen haben Alissa nie losgelassen. Den Schmerz darüber hat sie tief in | |
ihrer Seele vergraben, Kinga kennt nur den nebulösen Seelenschmerz ihrer | |
Mutter. Als die starb, hinterließ sie der Tochter eine Wohnung in Breslau, | |
deren Vorgeschichte Kinga und Dorota verbindet. | |
Nach Breslau führte schon der Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“. | |
Nach einer Lesung aus dem Roman wurde Draesner von einer Frau | |
angesprochen. Die polnische Verlegerin Halina Simon erzählte der Berliner | |
Autorin die komplizierte Geschichte ihrer Familie, die das Gerüst für den | |
in Breslau spielenden Teil von „Die Verwandelten“ bildet. | |
Draesners an Geschichten und Geschichte übersprudelnder Roman steckt voller | |
Poesie und Sprachspiel. Das fängt schon mit dem Titel an. Er könnte ebenso | |
„Die Verwandten“ oder „Die Verwundeten“ heißen, da sowohl Familien- als | |
auch Schmerzlinien ein dichtes Beziehungsnetz zwischen den Figuren und | |
Handlungsorten aufspannen. Die Fäden verbinden dabei nicht nur Breslau, | |
Hamburg, Leipzig und München, sondern auch verschiedene Zeitläufte im 20. | |
Jahrhundert mit der Gegenwart. | |
Zweimal fällt die Erzählung dafür in ein „Wurmloch“, in eine Art | |
paläontologisches Limbo. Das erinnert an das Erzählprinzip von Draesners | |
Langgedicht „Doggerland“. Hier nun wühlt sich die Erzählung als „eine A… | |
hoch entwickelte KI“ durch die Raum und Zeit umschließenden Erdschichten | |
zwischen Deutschland und Polen. „Damit ein Herz sich umkehrt, ein Rock neu | |
genäht wird, eine Geschichte erzählt.“ | |
## Gespenster als Medien | |
Ob in diesen kurzen Einschüben unter Tage oder auf der Oberfläche der 600 | |
Seiten zählenden Handlung: Einmal mehr jagt Draesner sprachgewaltig die | |
Gespenster der Geschichte, von denen sie schon in ihren Frankfurter | |
Poetikvorlesungen sprach. Damals dachte die seit 2018 in Leipzig lehrende | |
Professorin für literarisches Schreiben darüber nach, „wie wir Leben | |
schreiben“ können. Gespenster seien geeignete Medien, um „Möglichkeits-, … | |
Täuschungsräume“ zu entwerfen, sagte sie im Winter 2016/17. Gespenster | |
„entwerfen uns, vervielfältigen uns, lassen uns fliegen“. Aber „was sie | |
sind, lässt sich allein in der Verneinung erschreiben“. | |
Diese Verneinung führt zum Ungesagten und Unterdrückten. Zu Geschichten, | |
die zwar verschwiegen, aber deshalb nicht weniger wahr sind. Im Kontext | |
damaliger und heutiger Kriege sind das vor allem die Geschichten der | |
Frauen. Draesner ändert das. In ihrem verzweigten Roman erhalten | |
ausschließlich Mütter und Töchter die Hoheit über die Erzählung. Männer | |
kommen zu Wort, aber immer nur durch den Filter einer weiblichen Stimme. | |
Es sind die Frauen, die die traumatischen Folgen von Krieg, Gewalt und | |
Ideologie, von Entwurzelung und Seelenschmerz schildern, ohne die Gewalt | |
sprachlich oder bildlich zu reproduzieren. Wie Draesner das macht, ist | |
schon große Kunst. Wenn nach dem braunen Terror die roten Soldaten in die | |
weiblichen Biografien einfallen, heißt es schlicht: „Wir hat kein Ich dabei | |
| Wir hat kein unberührtes Stück Haut mehr | keine nichtwunde Scham.“ | |
## Auslöschung von Teilen des Ichs | |
Gewalt, emotionale Kälte und gekappte Wurzeln lassen Draesners | |
Erzählerinnen neue Rollen annehmen und sich (an-)verwandeln. Ihre | |
individuellen Traumata löschen das Ich zum Teil aus, bekommen ein anderes | |
Gewicht und werden erst als Teil einer kollektiven, sich über Generationen | |
fortschreibenden Gewalterfahrung (be-)greifbar. „Frauenräume vergehen | |
nicht. Sie summen nach. Eine Sprache unter der Sprache, ein Rock noch unter | |
dem Rock, ein Ich, das die Stimmen anderer braucht, um sich | |
zusammenzusetzen.“ | |
Wie ein purpurner Faden zieht sich der Schmerz von Frauen durch diese | |
verwinkelte europäische Geschichte. Der Text greift das Bild, ausgehend von | |
Ovids „Metamorphosen“, gestalterisch auf. Die handeln von Philomelas | |
Vergewaltigung durch ihren Schwager. Er schneidet ihr die Zunge aus dem | |
Mund, um das dunkle Geheimnis zu wahren. Die stumme Philomela webt ihre | |
Nachricht an die Schwester daher in ein Gewand. | |
Ihre „Kettfäden“ greift Draesner als dünne Linien in verrätselten Gesän… | |
der gezwungenen Kinder und Mütter auf. Andere (Ver-)Störungen ihrer Figuren | |
bringt sie durch Wortneuschöpfungen, Auslassungen und Streichungen in | |
Sprache und grafisches Bild. Schambehaft… und Unsagbares wird in diesem | |
Nimmerwoland nicht länger beschwie————gen, sondern sprachlich | |
zurückerobert, um weibliche Gewalterfahrungen im Text sichtbar zu machen. | |
Zudem spielt die vielfach ausgezeichnete Lyrikerin virtuos mit den | |
Sprachwelten, webt schlesische und polnische Wendungen sowie Dialekte und | |
Soziolekte in den Text ein. Ihre Sätze fließen mal episch dahin, dann | |
wieder tanzen sie poetisch verspielt über die Seiten. „Die Verwandelten“ | |
ist nicht nur eine große europäische Erzählung, sondern auch ein | |
Meisterwerk verbaler Emanzipation. | |
Die kann sich nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch zwischen | |
den Generationen vollziehen, wie an der Breslauer Familiengeschichte | |
deutlich wird. Marolf und Else Valerius, Dorotas deutsch-schlesische | |
Großeltern, wurden nach dem Krieg zwangsumgesiedelt. Ihre 16-jährige | |
Tochter blieb und nahm eine polnische Identität an. Aus Reni Valerius wurde | |
Walla Dombrowska, deren Kinder später in den Strudel der wechselvollen | |
polnischen Geschichte geraten. Auch hier tun sich Abgründe auf, werden | |
Lücken in Biografien gerissen und Wunden geschlagen. Die Verwandlungen | |
setzen sich fort. | |
Fiktion, so schreibt Draesner in ihrem Nachwort, sei „eine Folie, im | |
Nachhinein um verletzte Körper geschlungen“. Erst diese Folie ermöglicht | |
es, den über die Wunden der Vergangenheit geworfenen Mantel des Schweigens | |
zu lüften und Figuren sprechend ins Licht treten zu lassen. Auch deshalb | |
ist Ulrike Draesners „Die Verwandelten“ ein erhellender, lichtbringender | |
und geradezu heilender Roman. | |
25 Apr 2023 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Hummitzsch | |
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