# taz.de -- Essays von Michael Rutschky neu gelesen: Der amerikanische Gedanke | |
> Michael Rutschky war ein großer Verehrer der USA. Wie lesen sich seine | |
> Essays und Tagebücher vor dem Hintergrund der Rassismusproteste? | |
Bild: Was, wenn der Selbstentwurf scheitert? Michael Rutschky an seinem Schreib… | |
Sechs schwarzweiße Selfies des Autors finden sich in Michael Rutschkys „Wie | |
wir Amerikaner wurden. Eine deutsche Entwicklungsgeschichte“ (2004). Mit | |
und ohne Sonnenbrille, vor verschiedenen urbanen Kulissen, Skylines, | |
Brachen, einmal auch mit nacktem Oberkörper in einem dunklen Zimmer. Wenn | |
nicht ohnehin durch Brillengläser verdeckt, ist sein Blick ernst, müde, | |
grimmig beinahe. „Dies könnte Delamarche sein“, steht darunter, oder „di… | |
könnte Professor Rennell/George Willard/Hymann Weiss III/William Banton | |
Jr./Dr. Siebert sein“. | |
Geschäftsmann, Wissenschaftler, Reporter, Ganove, Politiker, ein enger | |
Freund. Unendliche Möglichkeiten im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, | |
bloß nicht Michael Rutschky selbst. Unklar auch, wie er von sich selbst | |
erzählt: mal spricht er von „R.“, mal von „ich“. | |
„Du kannst fortgehen, du kannst eine andere werden – der amerikanische | |
Gedanke“, schreibt Rutschky. Ich lese das Buch, einen wilden Genremix aus | |
kulturgeschichtlichem Essay, Erinnerungen an verschiedene USA- und | |
Kanadareisen, Lektüreexzerpten und Fotografien, zu einem Zeitpunkt, an dem | |
sich die USA unter Donald Trump auf einen Bürgerkrieg zuzubewegen scheinen. | |
Twitter gab es 2004 noch nicht, Facebook kam etwa zeitgleich mit Rutschkys | |
Buch auf den Markt. In den sozialen Netzwerken sind wir natürlich alle | |
Amerikaner (und Demokraten), folgen oder entfolgen realdonaldtrump, lieben | |
AOC und Bette Midler und trösten uns mit Michelle Obama und Taylor Swift. | |
Fast erstaunlich, dass wir im November nicht mitwählen dürfen. | |
## Gefeiertes Freiheitsversprechen | |
Auch die Protestwellen von Black Lives Matter sind zügig über den Atlantik | |
geschwappt, um uns an den Rassismus in den eigenen Ländern zu erinnern. Hat | |
das von Rutschky gefeierte Emanzipations- und Freiheitsversprechen je | |
wirklich für alle Bürger*innen gegolten? Hat es Klassenschranken, | |
Hautfarbe, Geschlecht und körperliche Beeinträchtigungen überwunden? Oder | |
haben die identitätspolitischen Debatten der letzten Jahre nicht darauf | |
reagiert, dass „der amerikanische Gedanke“ allein eben für keine breite | |
Aufstiegsdurchlässigkeit gesorgt hat, weder in den USA noch in Deutschland? | |
Und Aufstieg, ist das überhaupt noch ein hilfreicher Begriff, oder | |
beschreibt er automatisch eine Dynamik, die andere ausschließt und hinter | |
sich lässt? | |
Eigentlich kurios, dass ich dem Schriftsteller und Essayisten Michael | |
Rutschky (1943–2018) erst jetzt begegnet bin. Mitten in der Coronapause | |
fragte die taz an, ob ich nicht über sein letztes Tagebuch schreiben | |
wolle, in diesen merkwürdigen Zeiten fehle er doch als scharfer, | |
distanzierter Beobachter. | |
## Ein forcierter Liberalismus | |
Michael Rutschky und seine Frau [1][Katharina Rutschky] waren mir als | |
intellektuelles Autoren- und Gesellschaftspaar schon vor 20 Jahren ein | |
Begriff, weil sie Dutzende linksliberaler Journalisten und Autor*innen, | |
darunter Rainald Goetz in den 70er und 80ern, Kathrin Passig und David | |
Wagner seit den 90ern, um sich geschart, beeinflusst oder beeindruckt | |
hatten. | |
Zu den Metathemen des Zirkels gehörte die linke Selbstaufklärung über die | |
eigenen ideologischen Verstrickungen – als Distinktionsbewegung fort vom | |
linken Mainstream mit seiner manchmal naiv-selbstherrlichen Neigung zum | |
Moralisieren. | |
Dieses Projekt kulminierte in demonstrativer Amerikaverehrung und einem | |
forcierten Liberalismus während der nuller Jahre, etwa in der Zeitschrift | |
Merkur, dessen Ex-Herausgeber Kurt Scheel eng mit Rutschky befreundet war. | |
## Spur der Verwüstung | |
Über Rutschkys letztes Tagebuch ist schon viel geschrieben worden, in der | |
Süddeutschen sogar eine ganze Seite 3 unter dem Titel „Auf der Spur der | |
Verwüstung“. Und wahrlich, die in der Verknappung oft kunstvoll gebauten | |
Einträge in „Gegen Ende“ (Berenberg Verlag) sind kein Spaziergang. Rutschky | |
ist beim Verfassen des Journals zwischen 53 und 66 Jahre alt; er bewegt | |
sich quasi auf die Rente zu, über die man als freier Autor ohnehin | |
hinausarbeitet. | |
Doch der Radius wird kleiner, die Reisewege werden kürzer, der Alltag wird | |
gleichförmiger. Tagespolitik, Wissenschaft, Einlassungen zu Lektüren finden | |
sich praktisch null. Stattdessen lakonisch und doch kunstvoll notierte | |
Träume, Alltagsszenen, Gesprächs- und Porträtminiaturen, auch von | |
Haustieren und ihren Krankheiten. | |
Doch das Tagebuch hat ein [2][größeres Thema: das Älterwerden], die | |
schleichende physische Verwandlung des Autors in einen anderen. Ein | |
zutiefst unheimlicher Verschleiß, dem weder Schwimmtraining noch | |
zeitweilige Alkoholabstinenz Einhalt gebieten können. | |
Mit der Annahme, vor allem Frauen registrierten jede kleinste körperliche | |
Veränderung, räumt Rutschky gründlich auf, wenn er sein „mürbe“ werdend… | |
Fleisch, die „krisselige“ Haut auf den Unterarmen, wachsende | |
Unförmigkeiten, später auch scheckigen Haarverlust beschreibt: „So wollte | |
er, das kann er aus vollem Herzen sagen, nie aussehen.“ | |
## Homosexuelle Fantasien | |
Es ist drastisch, aber auch großartig, wie rückhaltlos der Verfasser sich | |
in die Karten blicken lässt. So sind Sex (in der Fantasie fast mehr homo- | |
als heterosexueller) und Erektionen als Abwesenheit Dauerthema und sorgen | |
für bizarre Highlights, etwa wenn Rutschky von Sex mit Rainald Goetz träumt | |
oder schildert, wie er verzweifelt seine wankelmütige Morgenlatte zu | |
fotografieren versucht. | |
Auch in anderen Lebensbereichen wird Bilanz gezogen. Sinkt sein Stern nicht | |
unaufhaltsam? Regelmäßig muss der einst gefragte Essayist seinem Girokonto | |
Erspartes hinzufügen. Ausbleibende Anfragen und Einladungen treiben ihn um, | |
ebenso Freunde, die anscheinend auch ohne seinen Rat und Input | |
zurechtkommen. Dürftiger noch als die eigenen Einnahmen gestalten sich die | |
der Gattin „K.“: Dass er sie anscheinend über weite Lebensabschnitte | |
„alimentieren“ muss, erfüllt ihn immer wieder mit Groll. | |
Ebenso die neurotischen Umstände, unter denen sie ihre Artikel schreibt: | |
Unter acht Stunden und zwei Flaschen Rotwein geht gar nichts. Beruf | |
verfehlt, konstatiert Rutschky, der wiederum Weißwein als Schlafmittel | |
nutzt und am Folgetag sorgenvoll die nachts geleerten Gläser zählt. | |
## Rasende Kriegslust | |
Während Michael Rutschky also ein anderer wird, oder vielmehr: werden muss, | |
schreibt er das Amerikabuch. Es ist auch ein Gegenentwurf zu dieser | |
Realität. Im Tagebuch erwähnt er einmal kurz und unironisch seine rasende | |
„Kriegslust“ in Sachen USA versus Irak. Fast erwarte ich das Schlimmste: | |
eine reine Apologie des imperialen Amerika. Doch es kommt anders. | |
Auf verschiedenen Ebenen dekliniert Rutschky sein Leitmotiv durch. Die | |
Verheißung, sich neu entwerfen zu können, hat den Autor als jungen Mann in | |
der Nachkriegszeit aus der nordhessischen Provinz in die großen Städte | |
gelockt, nachdem sich das Land der Holocaust-Täter mit Hilfe der Amerikaner | |
und ihres Marshallplans als demokratische Bundesrepublik neu erfinden | |
durfte. | |
Sie hat aber auch aus Leroi, einem jungen schwarzen Soziologieprofessor, | |
dem Rutschky in Oxford, Mississippi, vorgestellt wird und der gerade seine | |
tenure (universitäre Festanstellung auf Lebenszeit) erhält, einen Eribon | |
avant la lettre gemacht: „Längst ist er seiner finsteren Vorgeschichte | |
entkommen und ein anderer geworden als der Sohn eines Barmannes aus | |
Detroit, Michigan, der sechs Kinder zeugte und mit 39 Jahren an Erschöpfung | |
starb.“ | |
Bis Barack Obama Präsident der Vereinigten Staaten wird, dauert es noch | |
vier Jahre, aber seine Präsidentschaft dürfte [3][Rutschky schwer bestätigt | |
haben]. | |
## Das imaginäre Amerika | |
Obwohl Rutschky Fast Food („schmeckt auf eine durchdringend ekelhafte Weise | |
ganz vorzüglich“) tapfer gut findet, hat er auch Stimmen gegen sein Amerika | |
eingebaut, das er durchaus vorsichtig das „imaginäre“ nennt. Allen voran in | |
Person der „Theaterfrau aus dem Osten“ D., unschwer entschlüsselbar als | |
Daniela Dahn (auch in der Bibliografie ist sie die einzige weibliche | |
Stimme), die mit seinem Freund „Dr. Siebert“ auf einer mehrere Kapitel | |
umfassenden gemeinsamen USA-Reise 1988 eine kurze, vielleicht bloß fiktive | |
Liaison eingeht. | |
Der Genozid an den Indianern, die Ausbeutung der Sklaven, Kolonialismus, | |
fortdauernder Rassismus, Raubtierkapitalismus auf Kosten der Umwelt – wo | |
auch immer sich die Gelegenheit bietet, muss „D.“ ihren | |
antikapitalistischen Finger in die Wunde legen, auf die dunkle Seite der | |
Macht verweisen, das Jungsspiel verderben. Womit sie R. so gründlich nervt, | |
dass er ihr nach der Wende Südstaatenmentalität unterstellt und sie der | |
Westküstenesoterik (das einzig Amerikanische, das Rutschky von Herzen | |
hasst) verfallen lässt. | |
So frei und inspirierend der Text formal verfährt, indem er Ideen und | |
Alltagsbeobachtungen, Begegnungen und Fiktion, Welt und Ich in größter | |
Selbstverständlichkeit nebeneinanderher und aufeinanderzu laufen lässt, so | |
unangenehm und durchschaubar ist sein Versuch, die Amerikakritik durch die | |
Figur D. zu diskreditieren – obwohl er, zugegeben, sich selbst manchmal als | |
ulkigen neidischen Dritten zwischen den Reiseliebenden beschreibt. | |
Aber was, wenn der Selbstentwurf scheitert? Wenn die Ich-Fiktion von der | |
Biologie, von gesellschaftlichen Strukturen unterlaufen wird, wenn der | |
American Dream einfach kein egalitäres Versprechen werden will? | |
Michael Rutschky hätte das zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon wissen | |
können, im Tagebuch schreibt er ja eindringlich über die Qualen des | |
Kontrollverlusts gegenüber seinem alternden Körper. So bleibt auch im | |
Amerikabuch das schöne Projekt der Selbstaufklärung unvollendet: vielleicht | |
aus Trotz oder als melancholische Beschwörung einer alten Idee. Ohne | |
Mitgefühl und Solidarität bleibt sie genauso hohl, wie ihre Kritikerinnen | |
behaupten. | |
17 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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