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# taz.de -- Essay zu Schriftsteller Michael Rutschky: Mit Madonna auf der Autob…
> Der Autor Marc Degens führt mit einem Essay über Schriftsteller Michael
> Rutschky vor, wie autofiktionales Schreiben sein kann: „Selfie ohne
> Selbst“.
Bild: Mentor und womöglich falscher Freund: Michael Rutschky 2004
Es war ein Schock für [1][Michael Rutschkys Freunde und Bekannte,] was sie
in seinen Tagebüchern der Jahre 1996–2009, „Gegen Ende“, über sich und
andere lesen mussten. Am empfindlichsten getroffen war wohl Kurt Scheel,
der ehemalige Herausgeber des Merkur, der sich rührend um Rutschky
gekümmert hatte in den letzten Wochen seines Krebsleidens und dem dann auch
noch die unselige Aufgabe zukam, aus dem nachgelassenen Manuskript eine
publizierbare Auswahl zu treffen.
Wie tief Scheel die „häufig unwohlwollende“ [2][Darstellung seiner Person
in den Tagebüchern] verletzte, lässt ein Satz erahnen, den Rutschkys
Universalerbe Jörg Lau im Nachwort erwähnt. „Mancher verliebe sich in die
falsche Frau, sagte er, und mancher binde sich halt an den falschen
Freund.“ Ein paar Wochen nach Fertigstellung des Manuskripts beendete
Scheel sein Leben. Es verbieten sich Spekulationen, inwieweit das eine mit
dem anderen zusammenhing, aber es hat sie natürlich gegeben.
Auch Marc Degens gehört zum inneren „Rutschky-Kreis“ und hat diverse
Auftritte im Tagebuch. Nicht sehr schmeichelhafte. „Ich würde mich als so
eine Art leicht dümmlichen Dampfplauderer charakterisieren. Ein genetisch
degenerierter Spross einer Alkoholikersippe. Doof, hübsch anzusehen, aber
zu dick.“
Vielleicht ist das die richtige Herangehensweise, mit den postumen
Unterstellungen und Beleidigungen eines offensichtlich depressiven, mit der
eigenen Lebensleistung unzufriedenen und dem Altern nicht gut
zurechtkommenden Mannes umzugehen – ironische Distanz.
## Mentor, Lehrer, Freund
Aber das genügt Degens nicht. Dafür war ihm Rutschky als Mentor, Lehrer und
väterlicher Freund offenbar zu wichtig. Und so schreibt er diesen sehr
persönlichen Essay, vielleicht ursprünglich, um das schiefe Bild
geradezurücken, Rutschkys Diffamierungen etwas entgegenzusetzen. Das Schöne
an „Selfie ohne Selbst“ ist nun aber, dass es gerade kein kleinkarierter
Stellenkommentar („Hier irrt Rutschky!“) oder gar eine Abrechnung aus
enttäuschter Liebe geworden ist, sondern viel mehr.
Degens zeichnet die unmittelbare Rezeptionsgeschichte der Tagebücher nach,
die Gespräche unter Kollegen, den Insiderklatsch, die
Facebook-Diskussionen, die Besprechungen im Feuilleton, und kommentiert das
Gelesene. Er lässt die eigenen Emotionen zu, schreibt seine Scham, Wut und
Enttäuschung mit, tritt aber dann auch einen Schritt zurück und hinterfragt
sein Urteil selbstkritisch.
So ist dieser Essay auch und zunächst mal eine luzide literaturkritische
Würdigung Rutschkys, er bringt dessen Werk als „Mischung aus Adorno,
Kracauer, illegitimen Künsten und MTV“ augenzwinkernd und dennoch treffend
auf den Punkt.
Degens ergänzt zudem immer wieder eigene Erinnerungen, erzählt sehr
warmherzig von gelungenen Verabredungen, von kuriosen Lesebühnenauftritten
mit dem Ehepaar Rutschky im Publikum, aber auch von der eigenen
Unsicherheit im erlesenen Lektürekreis und seiner Furcht, intellektuell
nicht zu genügen.
## Facettenreiches Porträt
So entsteht ein durchaus facettenreiches Porträt, das dem Bild vom
Rumpelstilz in den späten Tagebüchern, der sich nur noch auf das Düstere,
Schlimme und Gescheiterte kapriziert, ein paar freundliche Tupfer
hinzufügt. Allerdings erinnert sich Degens auch nur an eine, allerdings
sehr schöne „Glücksbeschreibung“, die Rutschky ihm gegenüber einmal äu�…
„nachts mit dem Auto über die Autobahn zu fahren und laut Madonna zu
hören“.
Am Ende wächst sich der Essay zu einer poetologischen Reflexion über das
autofiktionale Schreiben aus, das Rutschky durch das eigene Werk, noch mehr
aber vielleicht durch seine Arbeit als Herausgeber von Der Alltag in
Deutschland maßgeblich geprägt und durchgesetzt hat. „Selfie ohne Selbst“
gehört natürlich in diese Tradition. Dieses Buch ist zum einen der
schriftgewordene Beweis für Degens Schülerschaft.
Und zugleich ist es auch eine Art Gegenentwurf zum späten Rutschky. Marc
Degens führt hier vor, wie Autofiktion eben auch aussehen kann: Wohlwollend
und aufgeschlossen für die volle Farbpalette des Lebens. Und vor allem mit
einem gesunden, reflektierten Verhältnis zu den eigenen Eitelkeiten.
So macht er auch die nach dem Tod des Meisters etwas überspannte
Auratisierung der „Rutschky-Schule“ nicht mit. Er kann nur den Kopf
schütteln über einen Zeit-Artikel, der sie zu einem zweiten George-Kreis
hochjazzt. „Der Rutschky-Kreis ist Geschichte. Erst jetzt können wir zu
verstehen beginnen, was er eigentlich gewesen ist.“ Degens ist froh, dass
in diesem Artikel sein Namen falsch geschrieben wird und er „so nicht von
Suchmaschinen gefunden werden kann“.
7 May 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Frank Schäfer
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Autor
Michael Rutschky
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