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# taz.de -- Rainald Goetz gegen Michael Rutschky: „Güte ist wichtiger als Ra…
> In seinem „Arbeitsjournal“ grenzt sich Rainald Goetz von seinem Mentor
> Michael Rutschky ab. Außerdem vergleicht er #MeToo und die 68er-Bewegung.
Bild: Lesung von Rainald Goetz im Schauspiel Frankfurt
Der Schriftsteller [1][Rainald Goetz] kommt in den Tagebüchern des 2018
gestorbenen Essayisten Michael Rutschky – was in den Besprechungen der
drei erschienenen Bände auch oft vermerkt worden ist – häufig vor. Frühe
Essays hat Rainald Goetz, vermittelt durch [2][Michael Rutschky,] im Merkur
veröffentlicht.
Außerdem war er bei Michael und [3][Katharina Rutschky] in ihrer Münchner
Zeit privat intensiv zu Gast; teilweise als eine Art ideeller Sohn,
zugleich hafteten sich libidinöse Energien an ihn. Bis ins späte Tagebuch
hinein tauchen bei Michael Rutschky homosexuelle Fantasien mit ihm auf.
So weit ist das alles bekannt. Nicht bekannt war bislang, was Rainald Goetz
darüber denkt. Doch das ändert sich jetzt. In dem „Arbeitsjournal Frühjahr
und Herbst 2019“ – es ist die Zeit, in der er das dritte, postum
erschienene Tagebuch liest – setzt sich Goetz mit Michael Rutschky
auseinander.
Herausgekommen ist ein bemerkenswerter Text – trotz der Tagebuchform keine
lockeren Notate, sondern sprachlich mit maximaler Kontrolle durchgearbeitet
–, der sich vehement von Michael Rutschky abgrenzt und darüber zu
prinzipiellen ästhetischen Positionen und auch solchen der Lebensführung
kommt (und für jemanden wie mich, der ich Michael Rutschky auch ganz gut
kannte, eine Herausforderung ist, weil er die Irritation über den dritten
Tagebuchband, die sich inzwischen gelegt hatte, wieder voll aufruft).
## Sein Lebensschicksal verstehen
Es ist keine Anklageschrift. Die Textbotschaft ist eher: Über die
Vorwurfsebene bin ich hinaus. Deutlich ist diesem Journal aber
eingeschrieben, wie sehr Rainald Goetz der dritte Tagebuchband beschäftigt
hat.
Die Selbstentblößung, mit der Rutschky seine depressiven Momente ausstellt,
und die brutalen Beobachtungen von Bekannten, die Rutschky notiert,
beschreibt Goetz als fundamental falsch: „Schonungslosigkeit ist kein
Konzept der Wahrheit, und exzessive Explizität dem eigenen Triebleben
gegenüber […] keine gute Methode, sich selbst und das Lebensschicksal, das
einem zugelost war, richtig zu verstehen.“
Etwas später heißt es: „Nicht schlecht über andere reden. Nicht bösartig
scharf beobachten. Nicht zu viel über sich selbst nachdenken. […] Güte ist
wichtiger als Radikalität.“ Das sind, wenn man bedenkt, dass Rainald Goetz’
eigenen Texten scharfe Attacken keineswegs fremd sind, teilweise
überraschende Maximen.
Aber Goetz stellt das so dar, dass er mit öffentlichen Personen im Streit
um das richtige und gegen das falsche Denken öffentlich scharf ringt, im
Privaten jedoch auf Freundlichkeit setzt, während Michael Rutschky nach
außen hin Verbindlichkeit und Kulturpessimismusabwehr pflegte, im Privaten
des Tagebuchs dann aber Gift und Galle spuckte. Ein komplementäres Bild, in
dem Goetz sich selbst vielleicht ein Spur zu gut wegkommen lässt.
Der Glutkern der Abgrenzung liegt aber in Wendungen wie „Bruch der
Vertraulichkeit“ und „echter Verrat“. Rutschkys Essayistik sei „von Anf…
an auf diesem Vampirismus begründet, andere zu Beispielfiguren der eigenen
Theoriespekulation zu machen, sie dafür ausbeuterisch zu benutzen“, liest
man. Hintergrund: Rainald Goetz fand das, was er in ihrer Freundschaftszeit
Michael Rutschky privat erzählte, in dessen Texten wieder, und das in
seiner Sicht auch noch verfälscht.
## Wie die Freundschaft auseinanderging
Von dem Verratsvorwurf aus erzählt Goetz in einem sehr nahbaren Abschnitt,
wie die Freundschaft auseinanderging. Er brauchte ein paar Jahre, um zu
realisieren, wie falsch er Rutschkys Umgang mit seinen privaten Äußerungen
fand, schreibt er. Dann zog er Konsequenzen: „Ich wehrte mich nicht, habe
ihm aber nichts mehr von mir erzählt und mich innerlich langsam von ihm
abgewendet.“
Was nachvollziehbar ist und sowieso sein gutes Recht. Die Wendung, von
dieser unschönen Erfahrung aus Rutschky als Autor insgesamt als gescheitert
zu erklären – „der Einzelfall-Soziologe war kein guter Reporter des realen
Einzelfalls“ –, muss man dagegen nicht mitmachen. Die Begriffe, die er
prägte, die Textformen, mit denen er experimentierte, bleiben inspirierend.
Diese Abschnitte des Arbeitsjournals sind wohl vor allem für Rainald-Goetz-
und Michael-Rutschky-Philologen interessant, das aber sehr. Bekannte Kurt
Scheels werden auch aufmerken, wobei der langjährige Herausgeber des Merkur
und Bearbeiter des dritten Tagebuchbands, der Rutschky etwas
„Unwohlwollendes“ attestierte (was Goetz zustimmend zitiert), als „falsch…
Freund“ bezeichnete [4][und 2018 Suizid beging,] hier zu eindeutig als
Rutschky-Opfer erscheint.
## Schönste Diskursrevolution seit 68
Es ist aber noch etwas anderes, was den Text über den engen Personenkreis
hinaus geradezu zum Vibrieren bringt: Das ist die Gegenüberstellung von
68 und #MeToo, die den Text grundiert. An einer Stelle überlegt Goetz, ob
Rutschkys Tagebuch nicht als „das essenzielle Dokument der Kaputtheit
dieser Zeit, dieser Generation von 68, der gigantischen Enttäuschung durch
das Altern, das Scheitern von Ambitionen“ gelten müsse.
#MeToo dagegen beschreibt er als „schönste Diskursrevolution seit 68“,
verteidigt das „Hysterische“ im Kampf gegen das strukturelle Patriarchat –
„es geht nur so, eine leisere Sprache versteht die Macht nicht“, und ein
paar Seiten weiter: „öffentlich, streitig, wahnhaft rechthaberisch wird
dabei verhandelt, […] wie die Menschen in jeder konkreten Interaktion
einander begegnen wollen“.
Von diesem Arbeitsjournal aus könnte man tatsächlich einmal grundsätzlich
über das Verhältnis von 68 und #MeToo nachdenken, Gegensätze beschreiben,
aber auch Kontinuitäten sehen, allerdings vielleicht nicht nur gegen
Rutschky, sondern teilweise auch mit ihm, schließlich hat Rutschky in sein
68er-Sein als Autor die prinzipielle Selbstkritik eingebaut und stets
hochgehalten.
Insgesamt legt Rainald Goetz eine Lesart des Tagebuchs vor, die das Dunkle
und „Kaputte“ maximal hervorhebt. In manchen Punkten, etwa der Einordnung
des Lesekreises, irrt er. Bei anderen kann man seine unerschrockene
Klarsicht bewundern, etwa wenn er notiert, dass die homoerotischen Stellen
eben kein Coming-out darstellen: „in diesem Begriff geht das Extreme,
Irritierende von dessen Aufzeichnungen zu seiner Sexualität gar nicht auf“,
es sei vielmehr „ein forscherisch nach innen gerichtetes Bemühen um
Verstehen des aufwühlend unverstandenen Trieblebens in ihm“.
Toll darüber hinaus manche Nebenbemerkungen, die abfallen – zum Thema
Familie heißt es: „Familie ist eine hohe Kunst, die wahrscheinlich über
mehrere Generationen hinweg entwickelt und erlernt werden muss.“
Mutig, aber auch gut, dass der Merkur dieses Journal jetzt in seinem
Maiheft bringt.
29 Apr 2024
## LINKS
[1] /Buechner-Preisverleihung-in-Darmstadt/!5242880
[2] /In-Erinnerung-an-Michael-Rutschky/!5492328
[3] /Nachruf-Katharina-Rutschky/!5149342
[4] /Kurt-Scheel-ist-tot/!5526117
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Intellektuelle
68er
Schwerpunkt #metoo
Literatur
Michael Rutschky
Theater
Essay
Schwerpunkt Rassismus
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