# taz.de -- Büchner-Preisverleihung in Darmstadt: Wofür ich stehe? Amore! | |
> Der 61-jährige Schriftsteller Rainald Goetz erhält in Darmstadt den | |
> Georg-Büchner-Preis. Seine Dankesrede ist klug – und am Ende singt er | |
> sogar. | |
Bild: Gleich singt er: Autor Rainald Goetz (r.) bei der Georg-Büchner-Preisver… | |
Das Staatstheater in Darmstadt ist ein riesiger weißer Komplex, gebaut in | |
den Siebzigern, Mitte der nuller Jahre erweitert. Das Foyer hat | |
Flughafenausmaße, der Zuschauerraum, tausend Plätze, ist kathedralenhoch, | |
und die Bühne ist gewaltig. | |
Auf dieser Bühne stand also der Schriftsteller Rainald Goetz vor einer blau | |
leuchtenden Rückwand und sagte am Schluss seiner Büchnerpreisrede: „Wie | |
wollen wir leben? […] Was ist das Ergebnis dieser Rede, Wanda, wenn jemand | |
fragt, wofür du stehst.“ Und dann zögerte er einen Moment, lächelte aber | |
auch schon über das, was gleich kommen würde, holte noch einmal Luft und | |
fing ganz zart – zu singen an. „Wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag f�… | |
Amore, Amore!“ | |
Amore! Was in diesem Moment alles zusammenkam! [1][Das Stück stammt von der | |
– in avancierten Popkreisen nicht unbedingt gut beleumundeten – | |
österreichischen Band Wanda.] Vor allem aber: Dass ein Schriftsteller wie | |
Rainald Goetz, dem Pathos durchaus nicht fremd ist, so eine weltwichtige | |
Büchnerpreisrede, auf die man als Schriftsteller sein ganzes weiteres Leben | |
identitär festgenagelt wird, mit so einem zarten Moment ausklingen ließ, | |
das war schon ganz, ganz großartig. | |
Und es war natürlich überhaupt kein Klamauk. Die Berechtigung zu so einen | |
Moment muss man sich als Redner zuvor durch Ernsthaftigkeit erarbeiten, | |
sonst wird es peinlich; und das hatte Rainald Goetz auch getan. Gleich zu | |
Beginn der Rede brachte er den entwaffnenden Satz, „dass Georg Büchner | |
Jugend heißt und der Georg-Büchner-Preis im Widerspruch dazu Akademie“. Das | |
ist ein wirklich kluger Gedanke, der die Spannung um den renommiertesten | |
deutschen Literaturpreis, der den Namen eines Autorenrebellen trägt, der | |
mit 23 Jahren starb, und von der honorigen Deutsche Akademie für Sprache | |
und Dichtung vergeben wird, auf den Punkt bringt. | |
## Ein „kaputter Ich-Spezialist“ | |
Klar war damit zugleich aber auch, dass der 61-jährige Goetz, dessen | |
jüngster Roman „Johann Holtrop“ im Jahr 2012 erschien, hier jetzt keinen | |
auf Berufsjugendlichen machen würde, sich zugleich aber auch nicht von | |
Jugend abgrenzte. Er machte es smarter. | |
Er redete über den schönen Weltveränderungsfuror der Jugend und die | |
rebellischen Kaputtheitsgesten Älterer wie Peter Hein und Michel | |
Houellebecq, über die Berechtigung zum Schreiben und den spezifischen | |
Einsatz der Literatur, über das Verhältnis der Literatur zum Journalismus, | |
über sich selbst als „kaputten Ich-Spezialisten“. Er redete, mit Verweis | |
auf Navid Kermanis Friedenspreisrede, über die vielfältigen | |
Voraussetzungen, die es braucht, um sich die Rolle eines politischen | |
Schriftsteller anmaßen zu können, über die Vorbildrolle, die Peter Handkes | |
Büchnerpreisrede von 1973 auf den damaligen Schüler Rainald Goetz ausgeübt | |
hatte, und noch über manches mehr. | |
Und nachdem er damit den Raum seines Schreibens umrissen hatte, löste er | |
die Spannung einfach auf, indem er Amore! sang. In diesem Augenblick sah er | |
ungeheuer jung und erwachsen zugleich aus. Und er hatte alle Anwesenden | |
bezaubert. | |
Um die Spannung zu erklären, die über dem Saal hing, muss man einen Schritt | |
zurücktreten. Alles begann am Abend zuvor. Da ist es Tradition, dass der | |
Büchnerpreisträger in der prächtigen Darmstädter Orangerie aus seinen | |
Werken vorliest, bei freiem Eintritt. Doch Rainald Goetz „wollte und | |
konnte“, so die offizielle Formulierung, von seinem Prinzip, nicht | |
öffentlich zu lesen, keine Ausnahme machen. Außerdem wurde bekannt, dass | |
man als Journalist dieses Jahr keineswegs, wie sonst üblich, kurz vor der | |
Feierstunde ein Manuskript der Rede bekommen würde. | |
## „Maschinen“, „Schmerz“, „Qual“ | |
Was hatte Rainald Goetz vor? Gab es überhaupt ein Manuskript? Eine | |
Poetikvorlesung in Frankfurt hat er einmal ganz ohne vorgefertigte Notizen | |
bestritten, in dem Versuch, die Zuhörer an dem realen Entstehen von Sprache | |
und Text teilhaben zu lassen, wobei er sich gründlich verheddert hatte. | |
Wollte er so etwas wiederholen? | |
Als Ersatz konnte man an diesem Vorabend immerhin die Akademie-Mitglieder | |
Gustav Seibt, Martin Mosebach und Michael Lentz Texte von Rainald Goetz | |
vorlesen hören. Gustav Seibt las aus dem Band „Loslabern“, und es war | |
interessant, die kompliziert mäandernden Goetz-Sätze einmal in einer ganz | |
anderen Intonation zu hören. Eine Schau war aber vor allem, wie Martin | |
Mosebach sich in all seiner Hochstiliertheit in das Stampfen des frühen | |
Goetz-Textes „Texas Chainsaw Massacre“ warf. „Maschinen“, „Schmerz“, | |
„Qual“, „Lust“. In Goetz’ frühem Punkpathos war es noch nichts mit A… | |
Dann, am nächsten Tag, begann die eigentliche Zeremonie gleich mit dem | |
Anflug eines Skandals. Heinrich Detering, der Akademie-Präsident, | |
distanzierte sich öffentlich vorab von Formulierungen, die der Publizist | |
Otto Köhler in seiner Laudatio auf die taz-Autorin Gabriele Goettle | |
verwendete, die den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und | |
Essay erhielt. | |
Tatsächlich wertete Köhler die aktuellen Gesetzesinitiativen zur Regelung | |
von ärztlicher Sterbehilfe als „neue Euthanasie“, den Nato-Einsatz gegen | |
Serbien aus den Neunzigern nannte er „Endsieg“. | |
## Alle schauen nach Darmstadt | |
Gabriele Goettle selbst konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend | |
sein. Ihre Dankesrede wurde verlesen. Sie kündigte an, ihr von der | |
Pharmafirma Merck gestiftetes Preisgeld der Anti-Pharma-Initiative Buko zu | |
spenden. Zuletzt hat sie sich, auch in ihren taz-Texten, eindeutig gegen | |
das herrschende Gesundheitssystem positioniert. | |
Dann kamen, mit akademischer Knorrigkeit vorgetragen, die Laudatio des | |
Doyens der deutschen Sprachwissenschaft Manfred Bierwisch auf den | |
Sigmund-Freud-Preisträger Peter Eisenberg und dessen Dankesrede. | |
Dann kam Jürgen Kaube. Der Herausgeber der FAZ (und Nachfolger von Frank | |
Schirrmacher) hielt die Laudatio auf Rainald Goetz (der ein großer | |
Schirrmacher-Kritiker war). Die gesamte Intellektuellenszene Deutschlands | |
hat in diesem Moment nach Darmstadt geblickt. Es hat schon Herausgeber | |
gegeben, die bei diesem Anlass versucht gewesen wären, sich durch ein | |
intellektuelles Big Picture zu profilieren, über die Krise des Geistes in | |
Zeichen des Internets, den Untergang der Schrift oder dergleichen. | |
Nicht so Kaube. Stattdessen: Sachlichkeit, Argumentation auf dem | |
Komplexitätsniveau des Gegenstandes und tiefer Respekt für den | |
Schriftsteller Rainald Goetz. Und für die Rainald-Goetz-Philologie hatte | |
diese Laudatio noch zwei wichtige Hinweise parat. Zum einen, die Stelle in | |
einem Essay ernst zu nehmen, in dem Goetz von dem „größten Glück der | |
Kindheit spricht“: „da sein, wo die Erwachsenen Gespräche führen“. | |
## Bis dahin: Amore | |
Tatsächlich kann man vielleicht, ähnlich wie bei Prousts „Suche nach der | |
verlorenen Zeit“, aus dem Glück eines mütterlichen Gutenachtkusses die | |
Goetz’sche literarische Kunst, alle möglichen Gespräche schriftlich zu | |
fixieren und wieder aufklingen zu lassen – von banal bis böse, von verlogen | |
bis glücklich –, aus dieser Kinder-Urszene herausholen. | |
Der zweite Hinweis zielt darauf, das Ich, das Rainald Goetz seit seinem | |
Debüt mit „Irre“ 1983 sprechen lässt, sowohl in seinen ständigen | |
Neuanfängen als auch in dem, wo es sich gleich bleibt, zu begleiten. | |
Nach der Vorrede Kaubes kam dann eben Rainald Goetz selbst. Er hatte sich | |
bestens vorbereitet und hielt eine Rede, mit der er sich in die große | |
Geschichte der Büchnerpreisreden einschrieb. Literatur, heißt es in ihr, | |
„steht am Rand, kommt aus der Fremde, aus anderen Ethnien und Berufen, | |
absurden Passionen, Bürgertum, Theorie, Nachtleben, politischen | |
Radikalitäten, Religionen, und immer wenn sie das Abseitige, was sie von | |
dorther weiß, nicht aufgibt, sondern immer wieder erneuert, kann sie | |
Relevantes zum Gespräch beitragen“. | |
Auf Wunsch von Rainald Goetz wird man die Rede erst in einiger Zeit | |
öffentlich lesen können. Bis dahin: Amore. | |
1 Nov 2015 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=xREl_68O-mw | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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