| # taz.de -- Eine Reise durch Darmstadt: Von Badesalz bis Mundstuhl | |
| > Darmstadt hat keinen besonders guten Ruf. Das könnte sich nun ändern, | |
| > denn seit Kurzem hat die Stadt einen Bundesligisten. | |
| Bild: Ausgelassen feiern die Fußballer des SV Darmstadt 98 (v.l.): Benjamin Go… | |
| Darmstadt taz | „Joa näxt konnäktschn, Eß-Zävn fromm pläddfoam six, wia | |
| Groß-Gerau, Riedstadt-Goddelau…“ Es ist ein seltsamer Landstrich, in dem | |
| sich die Mundart, Sprachfarbe Badesalz bis Mundstuhl, selbst in das | |
| betonharte Englisch des Zugpersonals der Deutschen Bahn frisst. „Näxt | |
| Stopp: Dammschdadt“, plärrt es aus den Lautsprechern. Dann rumpelt der Zug | |
| in den Zielbahnhof. | |
| Darmstadt, Südhessen. Vom Bahnhof in die Stadtmitte der | |
| 150.000-EinwohnerInnen-Stadt folgt man am besten der viel befahrenen | |
| Rheinstraße. Das Zentrum ist da, wo der City-Tunnel seinen orangefarbenen | |
| Schlund aufsperrt – und die Straße mitsamt einem Bandwurm an Autos | |
| verschluckt. Dahinter innerstädtisches Stillleben: eine Sparkasse, ein | |
| Starbucks, eine Shoppingmall. Die Mitte markiert das Ludwigsmonument, der | |
| „lange Lui“, 40 Meter hoch, zu dessen Füßen Platz für historische | |
| Subkulturen geschaffen wurde – bis vor Kurzem etwa versammelte sich hier | |
| die vielleicht letzte Grufti-Szene Westdeutschlands. | |
| Dennoch hat Darmstadt keinen besonders guten Ruf. Doch das könnte sich nun | |
| ändern, denn die Stadt ist Heimat eines Bundesligisten. Der kometenhafte | |
| Aufstieg des SV Darmstadt 98 ist eine Art Fußballmärchen im Miniaturformat, | |
| in kaum acht Jahren schafften es die „Lilien“ von der Hessen- in die | |
| Bundesliga. | |
| Bekannt und berüchtigt ist Darmstadt auch wegen seines Namens. Woher der | |
| kommt? Darüber gibt es verschiedene Theorien. Die favorisierte – und | |
| vermutlich dennoch falsche – ist die Herleitung vom Darmbach, einem | |
| Rinnsal, das, in einem jahrelangen Kraftakt ausgebuddelt und renaturiert, | |
| heute an den unmöglichsten Stellen im Stadtbeton auftaucht. | |
| ## Dünnpfiff-les-Bains | |
| Wiglaf Droste bezeichnete Darmstadt einmal als Dünnpfiff-les-Bains und traf | |
| damit exakt die Mischung aus Verachtung und ungläubigem Respekt, mit der | |
| die Stadt betrachtet wird: die nur nachlässig aufgemöbelte | |
| Siebzigerjahrearchitektur, die ewig nachgeteerten Straßen, Gehwege aus | |
| Kies, die Liebe zur Mundart. Dabei besitzt Darmstadt mit dem Chemiekonzern | |
| Merck, der mit 9.000 Arbeitsplätzen größter Arbeitgeber ist, und einer | |
| boomenden IT-Branche eine beachtliche Wirtschaftsleistung – und ist | |
| vielleicht zu Höherem bestimmt. Darmstadt aber ist gerne Provinzstadt. | |
| Der SV Darmstadt 98 ist dafür ein gutes Beispiel, und auch dessen marodes | |
| Stadion, das bloß „Bölle“ genannt wird. Seit letztem Jahr heißt es | |
| offiziell „Merck-Stadion am Böllenfalltor“. Doch das hat die Bausubstanz | |
| auch nicht verbessert. „Darmstädter Ekel-Stadion“ nannte es die | |
| Hannoversche Neue Presse. | |
| Und tatsächlich ist die Arena kaum von den umliegenden Trainingsplätzen zu | |
| unterscheiden. Den Sprung in die Erste Liga hat sie nicht mitgetan: nur | |
| 16.500 Plätze, die berüchtigte Gastumkleide, die mit einem Eimer Wandfarbe | |
| bundesligatauglich gemacht wurde, ein Presseraum, der aussieht wie Vatis | |
| Hobbykeller. Es ist auch unrentabel – nur 3.000 Tickets schaffen es in den | |
| freien Verkauf. „Wirtschaftlich ist das nicht optimal“, sagt Jan Becher vom | |
| SV 98 und lächelt. | |
| Das Herz der Fans hängt am Provisorium. Frei nach César Luis Menottis | |
| Theorie vom „linken Fußball“, der sich nicht an Erfolg und | |
| Wirtschaftlichkeit orientiert, sondern am Spiel. Oder, wie es in der | |
| Lilien-Hymne von Decubitus heißt: „Irgendwo in Fußball-Deutschland gibt es | |
| einen blinden Fleck / Behandeln der DFB und Sponsoren wie den allerletzten | |
| Dreck.“ | |
| Und nun soll das Stadion für 33 Millionen Euro doch noch in die Erste Liga | |
| gehievt werden. Gegen den drohenden Verlust der „Böllenfalltor-Kultur“ regt | |
| sich Protest. „Ich habe Angst, dass wir so einen 08/15-Betonklotz | |
| dahingestellt bekommen“, sagt etwa Kerstin Lau, Vorsitzende der | |
| unabhängigen Ratsfraktion „Uffbasse“ und aktiv im Fanbündnis „Tradition… | |
| Zukunft“. | |
| Sie stört vor allem, dass Darmstadt einiges hat schleifen lassen – die | |
| Pflege der Infrastruktur vom Stadion über Schulen, Straßen und Kanäle. Von | |
| „Investitionsstau“ spricht Lau. Und den Kredit soll nun ausgerechnet die | |
| Stadt an den Betreiber geben. Dafür bekam sie eine Sondergenehmigung – denn | |
| mit 850 Millionen Euro Schulden (12.622 Euro je EinwohnerIn) ist Darmstadt | |
| die am höchsten verschuldete, kreisfreie Stadt Deutschlands und befindet | |
| sich unter dem Kommunalen Rettungsschirm. | |
| Noch bis Anfang dieses Jahrtausends allerdings war Darmstadt nahezu | |
| schuldenfrei. Zwar stehen in der Innenstadt eine Reihe millionenschwerer | |
| Um- und Neubauten: Gebäude der Technischen Universität, das Landesmuseum, | |
| das Staatstheater. Doch die Gelder kamen aus der Landeskasse. Einzig das | |
| Kongresszentrum, eröffnet 2007, zahlte die Stadt: der Bau mit verschobener | |
| Stein- und Glasfassade heißt Darmstatium – nach einem radioaktiven Element, | |
| und der Stadt, in der er steht. | |
| ## „Oi! Saufen! Prost, Metzger!“ | |
| Aber es ist nicht so, dass Darmstadt nichts zu bieten hat. Sie gilt als | |
| Literaturstadt. Seit den Fünfzigern gab es im Verlagsviertel Dutzende | |
| Verlage und Druckereien. Der Georg-Büchner-Preis wird hier verliehen, da | |
| die Deutsche Akademie der Sprache und Dichtung in Darmstadt sitzt. Genauso | |
| wie das PEN-Zentrum. Und die Schriftstellerin Gabriele Wohmann lebte bis zu | |
| ihrem Tod vor wenigen Wochen zurückgezogen am Rand der Künstlerkolonie nahe | |
| der Mathildenhöhe. | |
| Im Stadtparlament sitzt das linke Bündnis „Uffbasse“ – darmstädterisch … | |
| „aufgepasst“ –, dessen Gesicht, Jörg Dillmann, bei der OB-Direktwahl 2005 | |
| mehr als sechs Prozent erhielt. Bekannt ist er vielen, vor allem den | |
| Älteren, als Frontmann der Punk-Band „Die Arschgebuiden“ (“Oi! Saufen! | |
| Prost, Metzger!“). | |
| Und auch darüber hinaus hat Darmstadt eine lebendige Musikszene. Die | |
| vermutlich letzte Indie-Band Deutschlands, die sich nach einem Teich | |
| benannt hat: die Woog Riots (englisch ausgesprochen). Zwar gab es am Woog | |
| (deutsch ausgesprochen), einem innerstädtischen Badesee, selbstverständlich | |
| keine Rebellion. | |
| Nicht einmal während 1968 in Frankfurt Straßenkämpfe tobten. Aber die | |
| Funktion der Indie-Musik in der Provinz war ja immer schon das Ausschmücken | |
| der tristen Realität. Womit wir wieder bei den „Lilien“ wären. Mit seiner | |
| ehemaligen Band hatte Woog-Riots-Sänger Marc Herbert einen kleinen | |
| Stadionhit gelandet. „SV 98 immer Europapokal“ lautet der zeitlos utopische | |
| Titel. | |
| ## „Eine zu melkende Kuh“ | |
| Aber Moment, eine Rebellion gab es eben doch. Die März-Revolte, welche die | |
| literarische Gegenkultur in die Literatur-Provinz brachte. Der vielleicht | |
| schönste Coup der deutschen Literaturgeschichte fand in am 18. März 1969 in | |
| Darmstadt statt: Protagonist der spektakulären „Sezession“ im eigenen | |
| Laden, dem Darmstädter Melzer Verlag, war Jörg Schröder. | |
| Mit fünf „Mitverschwörern“ (Schröder) übernahm er, ganz legal, die | |
| Verlagsstruktur – mitsamt Repertoire, MitarbeiterInnen, AutorInnen und dem | |
| deutschen Ableger der Olympia Press, einem Pornoverlag. Sie brauchten dafür | |
| nicht mehr als ein leeres Büro, ein Telefon und „eine zu melkende Kuh, die | |
| Olympia Press“, wie Jörg Schröder und Barbara Kalender in ihrem Erzählband | |
| „Schröder erzählt: Erste Sezession“ schildern. | |
| Mit der Gründung des März Verlags wurde hier Ernst gemacht mit der | |
| Neuordnung der Literatur. Am 19. März war das Ganze offiziell. Man lieh | |
| sich Portogeld und finanzierte den März Verlag aus den Gewinnen der Olympia | |
| Press. „Für mich war es der Nukleus der März-Revolte und die Zeit, als ich | |
| aus der Literatur-Provinz die Avantgarde-Stätte mit R. D. Brinkmann, | |
| Acid-Anthologie, ‚Roter Stern über China’, ‚Sexfront’, Vesper und | |
| ‚Kuckucksnest’ machte, erst danach kam Frankfurt“, sagt Schröder. Der Co… | |
| also war perfekt. Der Erfolg stellte sich bald ein. Selbstredend kehrte der | |
| Verlag Darmstadt dann sofort den Rücken. | |
| Man gewinnt eben nicht gern in Darmstadt. Ob das Ziel jetzt Deutscher | |
| Meister sei, fragte jüngst ein TV-Journalist den SV-98-Trainer Dirk | |
| Schuster. Der verwandelte die Vorlage gekonnt: „Dann müssen wir aber die | |
| Sportart wechseln.“ Oder eben die Stadt. | |
| 14 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Sonja Vogel | |
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