# taz.de -- Georg-Büchner-Preis für Rainald Goetz: Die wirklich wahre Wirklic… | |
> Er erhält den wichtigsten deutschen Literaturpreis. Bevor Rainald Goetz | |
> ravender loslabernder großer Autor wurde, war er, wie Georg Büchner, | |
> Arzt. | |
Bild: Rainald Goetz liest am 15. November in Braunschweig aus seinem Tagebuch. | |
Berlin taz | Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, was eigentlich aus | |
den Räumen des „Subito“ geworden ist, war da eine Kindertagesstätte oder … | |
etwas. Das war schon seltsam. Denn im Grunde müsste in diesen | |
Souterrainräumen im Hamburger Stadtteil Schulterblatt eine Weihestätte | |
stehen oder mindestens ein Museum der avancierten Gegenkultur. | |
Es war die erste Hälfte der achtziger Jahre. Helmut Kohl regierte. Aber | |
Hamburg leuchtete. Und die Subkultur, die sich nach Punk und künstlerischen | |
Neuen Wilden, in Abgrenzung von den Hippies und in produktiver | |
Auseinandersetzung mit Adorno in solchen Läden wie dem „Subito“ und der neu | |
gegründeten Musikzeitschrift Spex immer aufs Neue um Kopf und Kragen | |
redete, leuchtete mit. | |
Das „Subito“ war nicht nur irgendeine Kneipe, auf deren Spuren sich nun | |
vielleicht immerhin Doktoranden der Literaturwissenschaft setzen werden. | |
Inmitten der saturierten späten Bundesrepublik war es ein Ort | |
existentieller Kämpfe, die wirklich wahre Wirklichkeit im falschen Leben, | |
eine Künstlerrepublik, ein Greenwich Village der Post-Punk-Gitarrenmusik. | |
„Und jetzt, los ihr Ärsche, ab ins Subito“, lautete der letzte Satz des | |
Textes, auf den Rainald Goetz 1983 in Klagenfurt das Blut tropfen ließ, als | |
er sich beim Bachmannwettlesen mit einer Rasierklinge die Stirn | |
aufschlitzte. Eine Szene, die längst in die Literaturgeschichte eingegangen | |
ist. | |
Es waren heftige Zeiten damals, in denen man sich literarisch noch nicht, | |
so wie zum Glück heute, erst einmal „ausprobieren“ konnte, sondern sein | |
Schreibenwollen existenziell beglaubigen musste. „Krieg“, „Hirn“, „L�… | |
nicht umsonst ist das Frühwerk von Rainald Goetz durchsetzt mit solchen | |
Pathosformeln. Wenn er nicht Autor geworden wäre, wäre er Terrorist | |
geworden, schrieb er mehrfach. | |
Wie es dann in der Kulturgeschichte manchmal so läuft. Ein Drittel der | |
„Subito“-Stammgäste von damals hat sich inzwischen garantiert totgetrunken | |
oder irgendwie den Absprung geschafft. Ein weiteres Drittel wurde erst mal | |
Musik- und dann Magazin-Journalist. Und das restliche Drittel trat den | |
langen künstlerischen Marsch durch die Institutionen an. Blixa Bargeld von | |
den Einstürzenden Nachbauten macht inzwischen so etwas wie | |
Hochkultur-Avantgarde. Diedrich Diederichsen ist Kunstprofessor. Nick Cave | |
hat es irgendwie geschafft, älter zu werden. Und Rainald Goetz – 1954 | |
geboren, Immermitschreiber, Doppel-Doktor in Geschichte und Medizin, | |
passionierter Fahrradfahrer, Autor von inzwischen etwa einem Dutzend Bücher | |
–, Rainald Goetz hat jetzt den Büchnerpreis, immer noch Deutschlands | |
renommierteste Literaturauszeichnung. | |
Man kann sich sehr über diesen Preis freuen. Nicht nur, weil Rainald Goetz, | |
allen Anti-Hochkultur-Posen zum Trotz, als Schriftsteller noch in einem | |
hoch emphatischen Sinn an Literatur als Instrument zur Erfassung | |
gesellschaftlicher Realität glaubt. Sondern auch, weil er einfach ein | |
unglaublich guter Autor ist. Stimmungen – böse, schreckliche, aber auch | |
glückliche und fröhliche – kann er mit zwei, drei Sätzen einfangen. Seine | |
skrupulöse Sprachbeherrschung ist beeindruckend, egal, was er gerade | |
schreibt. Diese literarischen Fähigkeiten hat er sich durch all seine | |
Wandlungen hindurch bewahrt. | |
## Die Neujustierung | |
Sein Debütroman „Irre“ (1983) ist ein Buch, das einen bis heute immer | |
wieder beunruhigen kann, auch wenn man die neoexpressionistischen Muster, | |
nach denen es gebaut ist, durchschaut hat. Der Mittelteil des auf drei | |
Teile angelegten Buches besteht aus einer Psychiatrie-Novelle, die in | |
manchem an Gottfried Benns Rönne-Erzählungen erinnert; Raspe, der Name der | |
Hauptfigur bei Goetz, nimmt diesen Rönne-Bezug auf, spielt aber auch an das | |
RAF-Mtglied Jan-Carl Raspe an, einen frühen Haushelden von Goetz. | |
Wichtig für sein späteres Werk wird aber vor allem der dritte Teil von | |
„Irre“ werden. Er besteht aus Notaten, tagebuchartigen Einträgen, | |
KurzEssays, Stimmungsbildern – ein collageartiges Verfahren, in dem er jene | |
Mischung aus lyrischer Stimmungsmalerei und sachlichem Meinungstransport | |
ausprobiert hat, das ihn bis zu seinem Internet-Tagebuch „Abfall für alle“ | |
und seinem Blog „Klage“ begleiten wird: In allen seinen fiesen oder auch | |
bewundernden Miniporträts realer Personen, die Goetz stets in seine Bücher | |
einstreut, beweist er sich als genauer Beobachter. | |
Der zweite Roman „Kontrolliert“ sowie die Theater-Trilogie „Krieg“ lass… | |
sich noch in der Nachfolge von „Irre“ lesen. Doch dann ging Rainald Goetz | |
durch eine literarische Häutung. An die Stelle der theoretischen | |
Bezugsperson Adorno und seiner negativen Dialektik trat nun die | |
soziologische Theorie von Niklas Luhmann, der die Gesellschaft nicht | |
kritisieren, sondern erst einmal in all ihrer Komplexität beschreiben | |
lernen wollte. Und an die Stelle der Post-Punk-Musik trat der Techno. In | |
den neunziger Jahren, als das Bum Bum Bum der Loveparade durch das | |
wiedervereinigte Deutschland fegte, entdeckte Rainald Goetz die Freuden des | |
Dabeiseins und des Bejahens. | |
## Der große politische Roman | |
Man darf diese Kehre nicht als Abwendung von der Literatur lesen, eher als | |
Neujustierung. Der Raum des Hier und Jetzt, des Subito, hatte sich | |
erweitert, hin zu den großen Raves, irgendwo zwischen Subkulturwurzeln und | |
Mainstreamwerdung schwankend. Zu den literarischen Perlen dieser Zeit | |
gehört ein Abschnitt aus Rainald Goetz‘ Buch „Rave“ von 1998, ein paar | |
Seiten nur, in denen er auf der Oberfläche das Handwerk eines DJ | |
beschreibt, in Wirklichkeit aber ein Lehrstück darüber abliefert, wie | |
kompliziert die Gegenwart ist, Rückkopplungen und Reflexionen inklusive. | |
Ein Glanzstück, für das allein er den Büchnerpreis verdient hätte. | |
In den Nullerjahren hat Rainald Goetz versucht, den großen politischen | |
Roman der Berliner Republik zu schreiben. Daran ist er, skrupulös wie er | |
ist, gescheitert; in dem Band „Loslabern“ (2009) erzählt er von den | |
Hintergründen. Dafür schrieb er 2012 zuletzt den durchaus auch politischen | |
Roman „Johann Holtrop“, in dem er, angelehnt an die Figur des unglücklichen | |
Managers Thomas Middelhoff, furios die Geschichte eines rasanten | |
gesellschaftlichen Abstiegs beschreibt, inklusive vieler großartiger | |
Analysen etwa von Verhandlungssituationen, in denen Sprache als | |
Machtinstrument missbraucht wird. | |
„Das Beste an Klassikern ist“, so hat der junge Goetz 1983 in einem Artikel | |
für die SZ geschrieben, „dass sie viel zu vielen Leuten viel zu bekannt | |
sind und dass jeder Depp mit ihnen machen kann, was er will. Deshalb ist | |
der Klassiker ein Popphänomen.“ Ein Klassiker wäre Rainald Goetz so oder so | |
geworden, mit oder ohne Büchnerpreis, nicht nur der Popliteratur, sondern | |
der Kunst der Gegenwartsbeschreibung. Aber es ist schon besser so. Mit | |
Büchnerpreis fühlt es sich richtiger an. Das Hier und Jetzt des Subito ist | |
mit ihm weiter geworden. | |
8 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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