| # taz.de -- Rainald Goetz am Deutschen Theater: Ein Abstieg in die Hölle | |
| > Rechte verstehen sich traditionell als Beschützerin der Familie. Warum? | |
| > Eine Antwort sucht Rainald Goetz in „Baracke“, inszeniert von Claudia | |
| > Bossard. | |
| Bild: Natali Seelig (links) und Andri Schenardi (rechts) stecken in ihrer gewal… | |
| Nein, das hätte nun nicht sein müssen. Dass da oben auf der Bühne plötzlich | |
| eine Stirn blutet, als Reminiszenz an [1][Rainald Goetz’ Lesung] beim | |
| Bachmannpreis. Anno 1983 fand die Selbstverletzung statt und ist längst nur | |
| noch eine Anekdote der bundesrepublikanischen Kulturgeschichte. Mit solch | |
| persönlichen Referenzen kommt man dem Werk des großen Gegenwartschronisten | |
| nicht nahe, schon deshalb nicht, weil er selbst einfach nicht bei sich | |
| bleiben kann. | |
| Seiner Poetik eignet eine produktive Zerrissenheit zwischen der | |
| Zeitgenossenschaft, dem Staunen über das Alltägliche einerseits und einer | |
| geradezu zwanghaften Abstrahierung desselben andererseits. In allem scheint | |
| er eine Bedeutung zu erkennen, eine völlig übliche Interaktion zwischen | |
| Fremden dürfte ihn zum Grübeln bringen. | |
| In seinem neuen Stück „Baracke“ nimmt er sich nun der Liebe an, bemüht die | |
| alte Geschichte „Boy meets Girl“, die bei ihm natürlich auf einem ganz | |
| eigenen Reflexionsniveau stattfindet: „ich will ja, ja ja / ich ja auch / | |
| die du-ich-Attraktion galaktisch intra-atomar“. Eine Begegnung bei einer | |
| Party ist hier geschildert, die bald schon in die Niederungen einer | |
| Beziehung mündet. Mareike Beykirch und Jeremy Mockridge tigern entspannt | |
| durch ein Museum, da bringt sie eine harmlose Bemerkung von ihm („Kennst du | |
| das?“) zur Weißglut. | |
| Die Dame orientiert sich bald anders, verfällt einem Uwe, den sie heulend | |
| auf der Toilette sitzend anruft: Wo er denn bleibe? Hätte sie ihm, dem | |
| Macho in Motorradkluft, der mit einem kümmerlichen Blumenstrauß | |
| herumfuchtelt, nur den Laufpass gegeben, denkt man sich später, als Natali | |
| Seelig in der Rolle der gealterten Figur zugibt, dass er sie schlägt. | |
| Trennen will sie sich dennoch nicht, seltsamerweise liebt sie ihn sogar | |
| einfach weiter. | |
| ## Konservierte Gewalt | |
| So war die Beziehung zwischen Frau und Mann dem Stück zufolge schon immer | |
| beschaffen, mindestens aber seit 200 Jahren. Als Wiedergänger des Paars auf | |
| einem Gemälde Francisco Goyas geistert Seelig im Verbund mit Andri | |
| Schenardi über die Bühne. Sie keifen, brüllen, reizen sich aufs Blut und | |
| bleiben doch beieinander. Die Liebe ist mithin ein Abstieg in die Hölle. | |
| Das neunköpfige Ensemble verteilt sich in einer Szene an einem Tisch, um | |
| endlich das Rätsel zu lösen, warum Menschen aus freien Stücken eine Familie | |
| gründen, warum sie nicht froh sind, der eigenen entflohen zu sein, warum | |
| sie sich dem Horror aussetzen, der, so darf man den Autor verstehen, jede | |
| menschliche Bindung grundiert. Auch der bedürftige Nachwuchs kommt nicht | |
| gut weg, wird Kindern doch wahlweise ein „Extremmitläufertum“ oder gleich | |
| „diktatorischer Terror“ vorgeworfen. | |
| In ihrer knapp zweieinhalbstündigen Uraufführung [2][am Deutschen Theater] | |
| nimmt Regisseurin Claudia Bossard die humoristischen Angebote des Autors | |
| gerne an, bringt aber auch seine politische Analyse auf die Bretter, was | |
| gar nicht so einfach ist. Der Büchnerpreisträger durchbricht seinen Text | |
| immer wieder mit Verweisen auf den NSU, schildert den gemeinsamen | |
| Selbstmord von Mundlos und Böhnhardt. Der Terror der Kinder bekommt hier | |
| eine ganz neue Bedeutung. Bossard lässt dazu Videoclips im Loop ablaufen: | |
| Donald Trump, Elon Musk, Silvio Berlusconi und Alice Weidel verziehen da | |
| ihre Gesichter zu Grimassen. | |
| Was hat das zu bedeuten? Die Rechte versteht sich traditionell als | |
| Beschützerin der Familie. Eine Begründung der Politikwissenschaft dazu | |
| lautet, dass man sich im trauten Heim noch am besten von den verhassten | |
| Errungenschaften der Moderne abschotten kann, von Emanzipation, Toleranz, | |
| Freiheit. Doch vielleicht greift diese Beschreibung ja zu kurz, vielleicht | |
| ist es viel schlimmer. | |
| Die Inszenierung jedenfalls legt nahe, dass die rechte Begeisterung für die | |
| Familie vielmehr daher rührt, dass sich in ihr eine Gewalt konserviert, | |
| eine Gewalt, die jederzeit auch in die Gesellschaft ausbrechen kann. Das | |
| Private ist bei Goetz also nicht einfach nur politisch, es ist ein Grund | |
| für fortwährende Panik. Man muss diesem Befund nicht folgen, um an diesem | |
| Abend sehr produktiv ins Denken zu kommen. Ein ehrgeiziger, ein geglückter | |
| Theaterabend. | |
| 26 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Wolf | |
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