# taz.de -- Musiktheater über soziale Klassen: Wir sind doch alle Mittelschich… | |
> „Die große Klassenrevue“ von Christiane Rösinger feiert im Berliner HAU1 | |
> Premiere. Mit Brecht-Habitus und einem Touch von Sesamstraßensongs. | |
Bild: Revolution gegen die eigene Klasse? Schwierig | |
Diese arme höhere Tochter! „Ich wäre so gern wie ihr: Working Class!“, | |
singt sie – aber der Drops ist definitiv gelutscht: Einmal aus gutem Hause, | |
immer aus gutem Hause. | |
In Christiane Rösingers „großer Klassenrevue“, die am Mittwoch im HAU 1 | |
Premiere feierte, geht es um soziale Klassen. Und zwar größtenteils in | |
Reimform, und zu Livemusik: Auf der Bühne steht eine Gruppe von Menschen, | |
die aus der Arbeiterklasse im Osten und Westen, aus migrantischen Familien | |
oder einem bäuerlichen Umfeld (Rösinger selbst) stammen. | |
Zunächst beantworten diese in einer „Rallye“ Fragen zu ihrer Herkunft, um | |
herauszubekommen, wer denn eigentlich das Recht hat, sich zur | |
Arbeiterklasse zu zählen: „Hast Du je neue Kleidung bekommen?“, „Hast du | |
ein Musikinstrument gelernt?“, „Gab es bei Euch Bücher?“, „Bist Du mit | |
Deinen Eltern in den Urlaub gefahren?“ heißt es – und damit wird klar, wie | |
unterschiedlich soziale Missstände wahrgenommen werden: „Ich sollte immer | |
neue Klamotten tragen, um meine Herkunft zu verschleiern“, antwortet | |
[1][Minh Duc Pham], und muss dafür trotzdem eine Runde aussetzen. Am Ende | |
bleiben sechs Performer:innen übrig, aber ganz so einfach ist es auch | |
nicht: Die Gruppe reimt „Ich finde meine Klasse nicht – wir sind doch alle | |
Mittelschicht!“. Oder sind sie doch „Bohéme“? | |
Rösinger und ihre Performer:innen singen von der „Verachtung von | |
unten“, mit der als „arm“ geltende Menschen auf „Reiche“ schauen, und | |
postulieren: „Ich verzeih Euch nicht“. Brecht-Zitate und -Habitus ziehen | |
sich durch die gesamte Show, dazwischen erinnert die Revue mal an das | |
[2][Grips Theater], mal an die eifrig-spaßigen Erklärsongs der Sesamstraße | |
– all das passende und großartige Referenzen. | |
## Manieren abgewöhnen, um dazuzugehören | |
Die „höhere Tochter“ (Julie Miess) dagegen hat’s schwer: Damit sie endli… | |
zur – ihrer Ansicht nach – viel spannenderen Gruppe der Prekären gehören | |
kann, versuchen diese ihr das fürnehme Sprechen und die Manieren | |
abzugewöhnen. Zur Melodie von „Es grünt so grün wenn Spaniens Blüten | |
blühen“ bringen sie ihr als ulkige Umkehrung des „My Fair Lady“-Themas in | |
Rösingers badischem Heimatdialekt „S’isch wie’s isch“ bei und freuen s… | |
als die höhere Tochter endlich mundartelt: „Mein Gott jetzt hat sie’s!“. | |
Eine in säuregrün gekleidete „Neiddebatte“ (Stefanie Sargnagel) kann das | |
Problem auch nicht lösen. So umrahmen die Lieder, deren Melodien bekannte | |
Songs zitieren, die – nicht neue, aber wahre – Erkenntnis, dass weder | |
wirklicher „Aufstieg“ (durch Bildung) noch „Abstieg“ (durch Interesse) | |
möglich ist: Obwohl Definition und Distanz verschwimmen, wartet auf die | |
Reichen am Ende immer irgendwo ein Nachkriegserbe. | |
Die Schärfe und Bitterkeit von Brecht, oder die Immersion anderer Stücke | |
zum Thema, etwa [3][„Oratorium“, in dem die Performancetruppe „She She Po… | |
seit 2017 regelmäßig Zuschauer:innen einbindet] und den | |
(Un-)Gerechtigkeits-Disput so (zuweilen unangenehm) persönlich und | |
nachhaltig macht, kann und will die unterhaltsame Revue nicht erreichen: | |
Rösingers Waffen sind Humor, Lakonie und Verse. Das bewahrt die | |
Performer:innen nicht nur vor jeglichem „Victimizing“, sondern macht | |
die Diskussion auch für sämtliche Klassenzugehörigen zugänglich. | |
Dass jedoch andere „Ismen“ kaum vorkommen, nur sehr kurz in Form von | |
Rassismus in Minh Duc Phams „Wenn du ein Junge aus dem Erzgebirge bist, und | |
deine Eltern aus Vietnam stammen“ oder einem Beitrag von Sila Davulcu, ist | |
angesichts des Diskurses über Intersektionalität schade: Müsste man nicht | |
auch in einer konzentrierten „Klassenrevue“ und der Beschäftigung mit | |
Gerechtigkeit zumindest erwähnen, dass manche Menschen mehrfach | |
diskriminiert sind – etwa durch Rassismus, aufgrund ihres Aussehens oder | |
häuslicher Gewalterfahrungen? | |
Dennoch: Wie die „Klassenrevue“ in guter alter Agitpop-Tradition am Ende | |
das Lied der „Umverteilung“ zur Melodie von „Eternal Flame“ der Bangles | |
singt und tanzt, das hat schon Hitqualitäten. Wie hieß es nochmal beim | |
vielzitierten Brecht? „Will man Schweres bewältigen, muss man es sich | |
leicht machen.“ | |
21 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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