# taz.de -- Protestarchitektur in Frankfurt: Bitte nicht abreißen! | |
> Von Straßenbarrikaden in Paris bis zu Holzbarracken aus Lützerath: Das | |
> Architekturmuseum in Frankfurt zeigt, wie Protest gebaut wird. | |
Bild: Geknüpfte Strukturen, improvisierte und gut durchdachte Architekturen: B… | |
„Bitte nicht abreißen!“ Vor der geplanten Räumung des Protestcamps [1][im | |
Braunkohleort Lützerath] schickte Oliver Elser, Kurator am Deutschen | |
Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main, ein Amtshilfeersuchen an das | |
Polizeipräsidium Aachen. Eine Holzhütte aus dem Camp sollte in der | |
kommenden Schau präsentiert werden. | |
Am Ende wurde das Bauwerk mit dem Namen Rotkehlchen trotzdem demoliert. | |
Doch Briefe und Fotografien haben es ins Museum geschafft – neben | |
zahlreichen Devotionalien aus diesem und von anderen Orten: zum Schild | |
umfunktionierte Schranktüren der [2][Hongkonger Proteste], zum Schutzhelm | |
umgemodelte Salatsiebe vom [3][Maidan in Kyjiw]. | |
Das DAM zeigt „Protest/Architektur“. Es ist die wohl erste Schau überhaupt, | |
die sich in einer solchen Breite dem Phänomen der temporären Bauten, aber | |
auch ihrer zugehörigen Objekte, Einrichtungen und Infrastrukturen widmet. | |
Sie reicht von den ersten Straßenbarrikaden in Paris 1830 über Aufstände in | |
Frankfurt, Wien und Berlin bis zu den gut 3.000 Wohnverschlägen der | |
bürgerrechtsbewegten Resurrection City, die 1968 über Wochen in Washington | |
D. C. standen. | |
Wenig wurde für die Ausstellungsarchitektur hinzugekauft, liest man hier, | |
bis auf Spanngurte, Kabelbinder, DIN-A-O-Poster. Äquivalent zum Protestcamp | |
bestehen im Museum fast sämtliche Bauten aus Vorgefundenem. Das schaut auch | |
noch fantastisch aus: Kreuz und quer aufgestellte Gitterwände, festgezurrte | |
Sperrholzwände, schiefe Ebenen, hängende Knoten aus Regenbogenband, alles | |
steht unter einer guten Spannung. Selbst die Fensterbänke werden mit | |
liegenden Plakatflächen zur erweiterten Ausstellungsfläche. | |
## Abstrahierte Hommage an die Protestarchitektur | |
Eine allerdings nur einzeln begehbare Hängebrücke fängt den oft | |
abenteuerlichen Spirit ein, der vielen Camps anhaftet und sie wohl nicht | |
zuletzt auch deshalb so begehrenswert macht. Ansonsten ist dies hier aber | |
eher abstrahierte Hommage an die Protestarchitektur denn Reproduktion. | |
Persönliche Sympathie, erklärt das kuratorische Team, sei kein Kriterium | |
für die Auswahl einer Protestbewegung gewesen. Entscheidend allein, | |
inwieweit architektonische Formen eine Rolle spielten. Um die kreist die | |
Ausstellung phänomenologisch – politische Inhalte stehen weniger im Fokus, | |
ebenso wie Gewalt von außerhalb oder innerhalb jener Protestcamps. Man | |
denke an die sexuellen Übergriffe bis zu offenbar systematischen | |
Vergewaltigungen auf dem [4][Tahrirplatz], von denen Frauen berichtet | |
hatten und die exemplarisch dafür stehen mögen, wem eine Teilnahme an | |
Protesten zugestanden wird und wem nicht. | |
Protestcamps sind eben nicht nur Gegenwelt, sondern stets Teil der | |
Gesellschaft, in der sie vorkommen. Das macht sich in anderer Weise bei der | |
Räumung jener Camps bemerkbar, über die die Ausstellungsmacher am Beispiel | |
der [5][Anti-Atomkraft-Bewegung] pointiert anmerken: „Häufig musste die | |
Polizei […] Konflikte auflösen, die eigentlich politisch entschieden werden | |
sollten.“ | |
Umfassend dokumentiert sind neben berühmten Camps wie jenen der | |
[6][Republik Freies Wendland] oder der Occupy-Wallstreet-Proteste Beispiele | |
aus jüngerer Zeit in Deutschland. Allein aus dem Hambacher Forst finden | |
sich unzählige Baumhausmodelle, geknüpfte Strukturen, improvisierte und | |
auch mal gut durchdachte Architekturen. | |
## „Be Water“ statt fester Verortung | |
Besonders aufmerken lassen aber solche Camps werden, von denen man sonst | |
selten gehört hat: wie die Indian Farmer’s Protests gegen [7][die | |
umstrittenen Agrarreformen in Indien], die mehr als ein Jahr und vier | |
Monate wenig bemerkt vom deutschen Nachrichtengeschehen stattfanden und | |
letztlich Erfolg zeigten. | |
Spezifische Architekturen ergaben sich oft aus strategischer Notwendigkeit. | |
Dabei konnten praktische Lösungen zugleich symbolischen Charakter | |
entfalten. So bei den Protesten in Hongkong, deren Teilnehmerinnen und | |
Teilnehmer sich anfangs haushaltsübliche Regenschirme gegen Wasserwerfer | |
und Tränengas zunutze machten. | |
Später rückte man ob der zunehmend schärferen Repressionen von festen | |
Verortungen im Stadtraum ab und formulierte die Losung „Be Water“ – fluide | |
sein, um sich immer wieder blitzschnell formieren und auseinanderdriften zu | |
können. Ähnlich hält es die brasilianische Bewegung der obdachlosen | |
Arbeiter, Movimento dos Trabalhadores Sem Teto, kurz MTST. Binnen einer | |
Nacht schlagen ihre Anhänger:innen Zeltstädte lediglich aus Plane, | |
Bambusstäben und Kordel auf, die sich unmittelbar im Stadtraum entfalten | |
und wieder verschwinden können, bevor sie geräumt werden. | |
Das Wasser wiederum spielte auch auf dem Maidan eine wichtige Rolle, wo | |
sich seinerzeit eine breite Protestbewegung zusammenfand: Zum einbrechenden | |
Winter übergossen die Protestierenden ihre Barrikaden mit Wasser, das in | |
der Kälte rasch gefror und die temporären Bauten so stabilisierte. | |
Architektur, lautet eine Kernthese dieser Schau, spielt für das Erreichen | |
der jeweiligen Protestziele eine entscheidende Rolle. Umgekehrt gilt, dass | |
eine Behauptung im öffentlichen Raum erst einmal eine gewisse politische | |
Artikulationsmöglichkeit erfordert. Schwer denkbar, dass etwa in Nordkorea | |
derzeit ein solches Protestcamp aufgeschlagen werden könnte. | |
Nachhaltig beeindrucken der Gestaltungsreichtum, die Vielfalt von | |
Protestarchitektur, die Lust, seine Lebensumgebung zu gestalten. Auch | |
Temporäres kann eine Lösung sein. Wenn man immer nur daran denke, dass | |
alles eines Tages wieder abgerissen wird, sagt sinngemäß eine | |
Protestierende im Ausstellungsfilm, dann fange man ja niemals an mit dem | |
Bauen. | |
24 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Katharina J. Cichosch | |
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