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# taz.de -- Ende der Agrarreform in Indien: Erleichtert ja, zufrieden nein
> Indiens Parlament hat die neoliberale Agrarreform der Regierung von
> Narendra Modi zurückgenommen. Doch den Bauern ist das nicht genug.
Bild: Mumbai am Sonntag: Bäuerinnen ruhen sich Rande einer Protestaktion aus
Mumbai taz | Fast so schnell wie im September 2020 drei neue
Agrarreformgesetze im indischen Parlament verabschiedet wurden, so rasch
wurden sie am Montag wieder zurückgezogen. Die TV-Übertragung aus dem
Parlamentsgebäude war kaum zu verstehen. So laut war es dort, als in
Rekordzeit die umstrittenen Gesetze erst im Unterhaus und dann im Oberhaus
widerrufen wurden.
Dank ihrer Mehrheit konnte die regierende hindunationalistische Volkspartei
(BJP) sie im Schnellverfahren verabschieden und jetzt wieder für ungültig
erklären – und das ohne jede Diskussion. Die Ansage kam von oberster
Stelle.
Am 19. November, dem Geburtstag des Gründers des Sikhismus, hatte
Premierminister Narendra Modi mit versöhnenden Worten angekündigt, [1][er
werde die umstrittenen Gesetze zur Liberalisierung der Landwirtschaft
streichen]. „Es ist uns nicht gelungen, alle Landwirte von den Vorteilen
dieser Gesetze zu überzeugen“, sagte der 71-Jährige in einer Rede an die
Nation.
Modi würdigte den Festtag der Sikh-Minderheit, von der viele aktiv am
Protest beteiligt sind. Die fast einjährigen Proteste hatten ein Ausmaß
angenommen, das für Modi und seine Partei angesichts bevorstehender Wahlen
in den beiden Agrarstaaten Punjab und Uttar Pradesh zu heikel wurde.
## Immer wieder war es zu Zusammenstößen gekommen
Im Laufe des Jahres war es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen
Sicherheitskräften und Bauernvertreter:innen gekommen, die im Norden
Indiens [2][mit Traktoren protestierten] und dabei zeitweise auch Straßen
blockierten.
Die Angst vor einer Deregulierung der Landwirtschaft, bei der einzig
Großkonzerne profitieren würden, hatte die Proteste angetrieben. Mit seiner
Ankündigung forderte Modi die Demonstrierenden zugleich auf, ihren
Widerstand zu beenden und ihre Protestlager am Rande der Hauptstadt Delhi
zu räumen. Bisher vergebens.
In den Hochburgen des Widerstands wie im Tikri-Camp wurde Modis Rückzug mit
Freuden aufgenommen. Es wurde gejubelt, Süßspeisen an Polizeibeamte
verteilt, doch die Skepsis blieb: „Wir haben gefeiert, aber der Protest ist
noch nicht vorbei“, sagt die 29-jährige Navkiran Natt aus Punjab, die für
die Protestzeitung Trolley Times schreibt.
Sie ist erleichtert, aber noch nicht zufrieden. „Es stehen Wahlen vor der
Tür, deshalb sind sie in Delhi in Eile“, kommentiert sie die überaus
schnelle Abstimmung im Parlament am Montag. Es sei offensichtlich, dass die
Regierung eine erneute Diskussion über die Gesetze vermeiden wollte.
## Bauern warten auf Modis Antwort auf ihre Forderungen
„Wir warten auf eine Antwort des Premierministers“, sagt Natt. Vor einer
Woche schickte das Bauernbündnis Samyukt Kisan Morcha einen Brief an Modi
mit sechs Forderungen. „Auch wir wollen zu unseren Familien zurückkehren,
sobald die offenen Fragen geklärt sind“, ist darin zu lesen.
Zu den Hauptforderungen gehören ein Mindestpreis für landwirtschaftliche
Erzeugnisse wie Reis, Entschädigungen an die Familien jener, die bei den
Protesten starben, eine Amnestie für Protestteilnehmende sowie der
Rücktritt von Innenstaatsminister Ajay Kumar, dessen Sohn mutmaßlich daran
beteiligt war, dass im Oktober ein Geländewagen in Uttar Pradesh Bauern
totfuhr.
Der einflussreiche Bauernführer Rakesh Tikait gibt sich ebenfalls nüchtern.
„Wie sollen wir feiern, wenn 750 Landwirte während des Protests starben“,
sagte er zu Medienvertreter:innen. Tikait führt den Protest an der Grenze
zum Bundesstaat Uttar Pradesh an. „Die Proteste werden weitergehen“, sagt
er, solange die Forderungen der Bauern nicht erfüllt seien. Denn mit der
Aufhebung der Gesetze seien die Probleme der Bauern noch lange nicht
gelöst.
„Das ist ein großer Sieg für unsere Demokratie“, sagte hingegen der
Politiker Yogendra Yadav von der Anti-Korruptions-Partei Swaraj, der einer
der nur männlichen Unterzeichner des Briefes ist. Die Bauern hätten die
Regierung in die Knie gezwungen.
## Oppositionspolitiker sieht bei Modi keinen Sinneswandel
Es zeichnete sich ab, dass die Bauerndemonstrationen weitreichende
Auswirkungen haben würden. Sie auszusitzen gelang Modis BJP-Regierung
nicht. Der Politiker Palaniappan Chidambaram von der oppositionellen
Kongresspartei glaubt, die Kehrtwende des Premiers sei nicht auf einen
Sinneswandel zurückzuführen: „Die Entscheidung kommt aus Angst vor
möglichen Wahlverlusten.“
In Uttar Pradesh möchte die BJP weiter die Regierung stellen. Modi war dort
nach seiner Ankündigung der Rücknahme der Agrargesetze auf Wahlkampftour
und legte den Grundstein für einen neuen Flughafen.
Auch international litt das Ansehen des Premiers unter den Protesten. Die
Klimaaktivistin Greta Thunberg und die US-Sängerin Rihanna drückten ihre
Solidarität mit den Bauern aus. Diese bleiben zunächst kompromisslos. Sie
wollen am 4. Dezember über ihre Forderungen und die Antwort der Regierung
darauf beraten.
29 Nov 2021
## LINKS
[1] /Agrarmarktreform-in-Indien/!5816733
[2] /Agrarreform-in-Indien/!5743300
## AUTOREN
Natalie Mayroth
## TAGS
Narendra Modi
Indien
Protest
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Landwirtschaft
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