# taz.de -- Das Kohledorf Manheim verschwindet: Der Nabel der Welt | |
> Ein mehr als 1.000 Jahre altes Dorf soll 2024 abgebaggert werden. Die | |
> Künstlerin Silke Schatz findet, dass der Ort Manheim noch etwas zu | |
> erzählen hat. | |
Bild: Silke Schatz holt das verschwindende Manheim (hinten die Kirche) ins öff… | |
MANHEIM taz | Der Abschied zieht sich über Jahrzehnte hin. Der Schmerz | |
sitzt tief. Das Dorf Manheim existiert nicht mehr; auch, weil viele der | |
früheren Bewohner*innen nach der Umsiedlung auf den zügigen Abriss | |
ihrer Häuser gedrängt haben. Wir kommen an einem ausgeweideten Anwesen | |
vorbei. Es ist eines der letzten Überbleibsel einer Gemeinde, in der 1.600 | |
Menschen lebten, wo es Läden, eine Kita, ein Jugendzentrum und sogar ein | |
Schwimmbad gab. Auch die Straßenlaternen, die in der verkarsteten | |
Landschaft stehen, haben etwas Surreales. Bis vor Kurzem hätten die nachts | |
noch gebrannt, erzählt Silke Schatz, die seit drei Jahren einmal | |
wöchentlich von Köln nach [1][Manheim nahe Kerpen] fährt. | |
Wir stapfen durch Brennnesseln und Disteln. Silke Schatz nennt | |
Straßennamen wie Buirer Straße oder Esperantostraße und lateinische | |
Bezeichnungen von Pflanzen: Carduus, Dipsacus fullonum, Conyza canadensis. | |
Es ist, als verorte sie das Gebiet anhand der Standorte der vegetabilen | |
Neuankömmlinge neu. Die Künstlerin archiviert, was sie findet, auch von | |
Wind und Wetter abgeschliffene Scherben, die sie wie archäologische Funde | |
in Vitrinen ausstellt. „Ich stelle mir immer vor, dass es hier bald nichts | |
mehr gibt“, sagt Schatz. Sie fotografiert die Pflanzen, stellt aber auch | |
Fotogramme her, die sie „Schattenabnahmen“ nennt. | |
Die Conyza canadensis, die dort ungehindert wuchert, wird im nächsten | |
Sommer aller Wahrscheinlichkeit nach auf einer Abraumhalde verrotten. Wie | |
die erloschenen Straßenleuchten existiert das [2][Kanadische Berufskraut] | |
nur mehr auf Abruf. | |
Das Terrain erweist sich als unerschöpflich. Am Ende der Allee eines alten | |
Friedhofs, wo früher die Gedenkstätte für die Gefallenen der beiden | |
Weltkriege ihren Platz hatte, findet Schatz eine Glasscherbe. Das | |
Überbleibsel einer Vase oder eines Grablichts? Die hochgewachsenen | |
Rotbuchen lassen die sie umgebende Ödnis vergessen, grünes Gras bedeckt den | |
Boden in dicken Matten. Fast alle Gräber wurden bereits entfernt. 2012 | |
begann die Umsiedlung – der Lebenden wie der Toten. Was zieht eine | |
Künstlerin an einen Ort, wo selbst das Gedenken kurzerhand verlagert wurde? | |
## „Der Ort reflektiert viel, er ist wie ein Juwel“ | |
„Für mich ist Manheim aus vielen Gründen der Nabel der Welt“, sagt Schatz. | |
„Der Ort reflektiert viel, er ist wie ein Juwel. Was da alles passiert ist, | |
seitdem ich da bin. Er ist ein Kristallisationspunkt des Klimawandels, der | |
Energiekrise, des Braunkohletagebaus.“ Sie spielt auf den umweltschädlichen | |
Energieträger Braunkohle an, der maßgeblich zum Klimawandel beigetragen | |
hat. | |
Manheim erzählt beredter als andere verlassene Dörfer von den Konsequenzen | |
des Tagebaus. Bald ist das 1.100 Jahre alte Dorf nur eine Fata Morgana. Für | |
sie als Künstlerin gelte das aber nicht. „Durch die Arbeit hier stellt sich | |
bei mir der Impuls ein, meine Beobachtungen in die Kunstwelt einzubringen.“ | |
Durch ihre Arbeit vor Ort wurde sie zu einer Pionierin eines Grenzlandes | |
zwischen Leben und Tod, Anfang und Ende. | |
In der Einöde des verlassenen Dorfes erkannte sie die Schönheit und Kraft | |
der [3][Wilden Karde], einer im Trockenzustand bizarr geformten | |
Heilpflanze. Die Künstlerin entdeckte ein Wäldchen von verwilderten | |
Thuja-Bäumen und Zierkirschen, in dem sich ein Reh eingerichtet hat – und | |
im Schutt eines abgerissenen Anwesens Rosenstöcke, die sie zu Exponaten | |
ihrer Ausstellungen erhob. „Ich stehe zu dem Prozesshaften meiner Arbeit“, | |
sagt sie. Die Manheim-Recherche ist bislang ihr umfangreichstes | |
Langzeitprojekt. Schatz interessiert sich für Orte, an denen sich | |
gesellschaftliche Konflikte niederschlagen. | |
Die stille [4][Kärrnerarbeit] ihres Vorgehens steht im krassen Gegensatz | |
[5][zum Aktivismus der jüngeren Generation], für den sie durchaus | |
Sympathien hegt. Für sie als Künstlerin sieht Widerstand jedoch anders aus. | |
Nur einmal nahm sie an [6][einer Hambi-Demo] teil – als Abgesandte ihres | |
Projekts. | |
## Hinweis aufs gemeinschaftliche Leben | |
Der Titel ihrer Werkserie „[7][Manheim Calling“] war anfangs nur der Titel | |
einer Skulptur. Schatz hatte den Unterstand einer Bushaltestelle in Manheim | |
fotografisch dokumentiert und vermessen. Er sollte 2021 in ihrer | |
Einzelausstellung Manheim Calling im Kunsthaus NRW Aachen Kornelimünster | |
und später in der Schau „Vom Leben in Industrie-Landschaften“ im | |
[8][Dürener Leopold-Hoesch-Museum] als Hinweis auf das gemeinschaftliche | |
Leben des Dorfes gezeigt werden. Eines Tages war die massive | |
Eisenkonstruktion verschwunden. Die Künstlerin ließ das Objekt von einem | |
Schreiner aus Holz nachbauen. | |
Jeder Abriss eines Gotteshauses beschert dem inzwischen auf erneuerbare | |
Energien umgeschwenkten Konzern RWE negative Schlagzeilen, nagt an der | |
Akzeptanz des langwierigen Rückbaus des Braunkohletagebaus. Aktuelle Pläne | |
schlagen vor, die Manheimer Kirche als Museum zu bewahren – am Ufer der | |
sogenannten Manheimer Bucht. | |
Die soll entstehen, wenn die gigantische Baugrube in ferner Zukunft | |
geflutet wird – inklusive großer Teile der Ortschaft Manheim. Das ist aber | |
gar nicht mehr zwingend. Der Sand und Kies, den RWE dort gewinnen will, | |
könnte auch andernorts beschafft werden – und zwar, ohne ein bestehendes | |
Ökosystem zu zerstören. | |
RWE und die Landesregierung rechtfertigten die Zerstörung von zahlreichen | |
Dörfern und die Umsiedlung von Tausenden mit dem Gemeinwohl, was seit den | |
1950er Jahren gleichgesetzt wurde mit der Energiesicherheit für | |
Nordrhein-Westfalen. Die Bedeutung des Begriffs hat sich seit einer Weile | |
geändert. Das Allgemeinwohlziel sei nun das Klima und nicht mehr die Kohle, | |
schreibt die NRW-Landtagsabgeordnete Antje Grothus (Grüne) in dem 2020 | |
erschienenen Band „Dividende frisst Heimat“. | |
## Die Rettung von Orten | |
Das von Hubert Perschke herausgegebene Buch dokumentiert das Engagement der | |
Bürgerbewegung, zu der sich Bewohner aller vom Tagebau betroffenen Dörfer | |
zusammengeschlossen haben. Die Rettung von Orten und die Begrenzung des | |
[9][Tagebaus Garzweiler II] ist vor allem ihnen und dem Bund für Umwelt und | |
Naturschutz Deutschland zu verdanken. | |
Hubert Perschke, Sozialwissenschaftler und Fotograf, hält seit Jahrzehnten | |
die Folgen des Tagebaus mit der Kamera fest. In seiner aktuellen | |
Bestandsaufnahme im [10][Nell-Breuning-Haus in Herzogenrath] befasst er | |
sich mit ebendiesen, infolge der verkleinerten Abbaufläche geretteten | |
Dörfer Keyenberg, Kuckum, Berverath, Ober- und Unterwestrich. | |
In seinem Einführungstext zur Ausstellung bemerkt Perschke, dass noch 2018 | |
im Kohleausstiegsgesetz die Notwendigkeit der Zerstörung dieser Orte | |
festgeschrieben worden war. 2022 konnte die Verkleinerung des Tagebaus | |
erreicht werden und damit der Erhalt der fünf Dörfer. Manheim aber wird | |
fallen – nicht zuletzt, weil man glaubte, Widerstand sei zwecklos. | |
Der Manheimer Landwirt Heinrich Portz ist zur Eröffnung nach Herzogenrath | |
gekommen und steht mit Antje Grothus an einem der Stehtische. Er gehört zu | |
den Menschen, die nicht so schnell aufgeben. Wenn er zu Hause aus dem | |
Fenster schaue, könne er jetzt den Kirchturm sehen, sagt er. In den dicht | |
an dicht stehenden Häusern von [11][Manheim-neu] fühle er sich wie in einem | |
Vogelkäfig. | |
Auch Antje Grothus, die sich seit Jahren für die Interessen der | |
Anwohner*innen einsetzt, will den Ort noch nicht aufgeben. „Ich | |
versuche auf der politischen Ebene das Manheimer Loch zu verhindern“, sagt | |
sie. | |
Das Archiv Manheim Calling von Silke Schatz wird in den Museen die Zeit | |
überdauern. Für sie ist das Terrain eine Inspirationsquelle. Genauso | |
wichtig aber ist für die Künstlerin das gesellschaftliche Spannungsfeld, in | |
dem sich Manheims Transformation ereignet hat. Indem Silke ihr Atelier an | |
dieses vom gesellschaftlichen Leben abgekoppelte Stückchen Erde verlegt | |
hat, katapultiert sie es zurück in das öffentliche Interesse. | |
14 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Manheim | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kanadisches_Berufkraut | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Wilde_Karde | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%A4rrnerarbeit | |
[5] /Widerstand-gegen-LNG-auf-Ruegen/!5934838 | |
[6] /Klimaaktivist-ueber-Luetzerath/!5909751 | |
[7] https://www.kunsthaus.nrw/ausstellung/silke-schatz-manheim-calling/ | |
[8] https://www.leopoldhoeschmuseum.de/de | |
[9] /Foerderung-von-Kohle/!5953026 | |
[10] https://nbh.de/ | |
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Manheim-neu | |
## AUTOREN | |
Carmela Thiele | |
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