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# taz.de -- Neues Buch von Rachel Cusk: Das Prinzip Überholspur
> Rachel Cusk denkt über Autos, Ehen und Eltern nach. Wer von Texten
> erwartet, das sie einen auf eigene Gedanken bringen, wird „Coventry“
> schätzen.
Bild: Ideal des gelehrten Witzes: Autorin Rachel Cusk
Rachel Cusk ist hierzulande bekannt geworden durch ihre autofiktionalen
Prosabücher, die man bisweilen mit Knausgårds Romanen verglichen hat. Sie
hat ihr Dasein als Mutter unerbittlich ausgeleuchtet, die Trennung von
ihrem Mann literarisch auseinandergenommen und in der ambitionierten
„Outline“-Romantrilogie ihr intellektuelles Leben als Schriftstellerin
gewissermaßen ex negativo beschrieben, indem sie die Erzählerin zum bloßen
Hallraum der mit ihr in Kontakt tretenden Protagonisten macht.
[1][Erzählung und Reflexion] sind komplementäre Kräfte ihres Schreibens,
das zeigt nun auch ihr Essayband „Coventry“, der sechs längere Denkstücke
versammelt. Die literaturkritischen Gelegenheitsarbeiten des englischen
Originals hat der deutsche Verlag auf ihr Geheiß separiert. Das mag man
bedauern, aber so gewinnt der Band an Kohärenz, denn die verbliebenen
Essays sind allesamt Bruchstücke einer Phänomenologie des Alltags.
Cusk schreibt über die Pubertät als Zeit der Abrechnung mit der
Elterngeneration; den Sinn und Zweck von Unhöflichkeit, nicht zuletzt „als
Schranke vor dem Handeln“, das schlimmere Konsequenzen zeitigen könnte;
oder über die Wohnung als Ort weiblicher Utopie, in der sich also
manifestiert, wie sich Frauen die Einrichtung dieser Welt erträumen.
Im Titelessay „Coventry“ analysiert sie die Machtstrategien ihrer Eltern,
die sie immer wieder mit wochenlangem Schweigen bestrafen – im Englischen
gibt es dafür die Redewendung: jemanden nach Coventry schicken –, bis sie
sich irgendwann für die Freiheit entscheidet und beschließt, „für immer in
Coventry zu bleiben und das Beste daraus zu machen“.
Der behände und elegante Wechsel zwischen Narration und Reflexion macht die
Qualität dieser Texte aus. Cusk beginnt meist im Anekdotischen und lässt
das dann aphoristisch leuchten, etwa indem sie ihre Alltagsbeobachtungen
mit Lektüre- und Bildungsfrüchten abgleicht oder sie in Beziehung setzt zur
politischen Großwetterlage. Es ist das aufgeklärte Ideal des gelehrten
Witzes, das hier zur Anwendung kommt.
## Aushöhlung des Konsenses
Dabei macht sie aufschlussreiche Beobachtungen. In „Autofahren als
Metapher“ etwa bemerkt sie, dass „in Großbritannien die Überholspur der
Autobahn zunehmend von Langsamfahrern besetzt“ wird, „während die beiden
anderen Spuren mehr oder weniger leer bleiben“. Offenbar sehen sich
mittlerweile alle auf der Überholspur, und das hat Folgen. Die
„Korrumpierung des Prinzips Überholspur“ nämlich, die zwangsläufig zur
„Aushöhlung des Konsenses“ führt.
Man überholt jetzt einfach auf den anderen Fahrspuren, das Recht des
Schnelleren triumphiert über die Straßenverkehrsordnung. Auch das sagt
vielleicht etwas aus über das zeitgenössische Großbritannien.
Analytische Klarheit und gedankliche Stringenz hingegen gehören nicht
unbedingt zu ihren Tugenden. Sie erschreibt sich ein Thema, assoziativ und
im Vertrauen auf ihre produktive Fantasie, die ihr immer wieder eine neue
gedankliche Abzweigung weist. Das sorgt mitunter dafür, dass man angesichts
der Vielzahl und Vielfalt der Gedanken den roten Faden aus den Augen
verliert und nach der Lektüre nicht so leicht rekapitulieren kann, was man
da gerade gelesen hat.
## Intellektueller Gewinn
Ein solches additives Verfahren, das kommt noch hinzu, hat auch schon mal
Längen. Aber wenn man die Qualität von Texten danach bemisst, ob sie den
Leser auf eigene Gedanke bringen, dann besitzen Cusks Essays durchaus ihre
Vorzüge. Gerade auch, wenn sie zum Widerspruch herausfordern. Man muss
nicht mit ihr einer Meinung sein, um intellektuellen Gewinn aus der Lektüre
zu ziehen.
In „Danach“ etwa, einer essayistischen Vorstudie [2][zu ihrem gleichnamigen
Trennungsbuch,] beklagt sie sich bitterlich, voller Selbstgerechtigkeit,
über ihre Ehe, in der sie Mutter und Ernährerin zugleich gewesen ist,
übersieht dabei aber den Beitrag ihres Mannes, der immerhin seine
Anwaltskarriere aufgegeben hat, um die Kinder großzuziehen. „Einmal
beichtete mir eine Freundin, sie bewundere unseren Lebensstil, wäre selbst
aber nie dazu fähig. Sie nannte mir auch den Grund: Sie könne ihren Mann,
sollte er sich in eine Ehefrau verwandeln, nicht mehr respektieren. Wir
waren also bewundernswert – ich, weil ich keinen Mann brauchte, und er,
weil er bereit war, kein Mann zu sein.“ In ihrer Verletztheit will sie sein
Opfer einfach nicht anerkennen.
Sie merkt, dass „die Spannungen der alten Orthodoxie unter der
umgestalteten Oberfläche der Dinge“ weiterwirken, und räumt indirekt ein,
dem traditionellen Frauen- und Mutterbild näher zu sein, als sie es sich
eingestehen mag. Aber sie kann einfach nicht raus aus ihrer Haut. Cusk
weiß, dass sie hier nicht sympathisch rüberkommt, und lässt es trotzdem
geschehen. Das ist ehrlich und mutig. Und hat ihr viel Kritik eingebracht.
Aber es sind vermutlich solche waghalsigen Texte mit weit offener Flanke,
die eine Diskussion voranbringen.
8 Oct 2022
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## AUTOREN
Frank Schäfer
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