| # taz.de -- Älter werden: Sixty, something | |
| > Wenn man sechzig wird, scheinen einem die Welt und die Zeit zu | |
| > entgleiten. Unser Autor fragt sich: Wie geht gutes Altern heute? | |
| Bild: Neue Erfahrungen? Ja, aber die müssen sich eben einordnen in ein vorhand… | |
| Vor ein paar Monaten bin ich sechzig Jahre alt geworden. Lust, den | |
| Geburtstag groß zu feiern, hatte ich erst einmal keine. Damit liege ich | |
| wohl im Trend. Es ist, glaube ich, derzeit eher nicht üblich, aus diesem | |
| Geburtstag ein großes Ding zu machen. Und auch ich wollte ihn eigentlich | |
| eher pragmatisch angehen. | |
| Wir waren dann an dem Abend zu zweit ambitioniert essen – drei | |
| Michelin-Sterne – und das war schön; ich werde immer gut an diesen Tag | |
| zurückdenken. Doch der Punkt hier ist: Ich glaubte, damit sei es als | |
| Übergang in [1][mein neues Lebensalter] auch getan. Aber das war ein | |
| Irrtum. | |
| Es ist keineswegs damit getan. Mein neues Lebensalter geht mir nach. Runde | |
| Geburtstage sind ja sowieso immer leicht anstrengend und mit Änderungen des | |
| Status und des Selbstbilds verbunden. Und der Sechzigste ist offenbar noch | |
| einmal eine besondere Ansage. Neben aller Normalität, die diese ominöse | |
| Sechs vor der Null längst angenommen haben mag – den medizinischen | |
| Fortschritten, den Vorsorgeuntersuchungen und den fitnessorientierteren | |
| Lebensführungen sei Dank –, behält sie immer noch etwas Irritierendes. | |
| Es ist nämlich seltsam, hier und heute, in dieser Gesellschaft und in | |
| dieser Zeit sechzig zu werden, das weiß ich inzwischen, es ist so massiv | |
| wie unwirklich zugleich. Massiv, weil die Zuschreibungen weiterhin vehement | |
| sind. Und zugleich aber auch unwirklich, weil die Normalisierung dieses | |
| Ereignisses die Würde dieser Jahreszahl und erst recht das Gefühl von | |
| Gnade, das mit ihr einst verbunden gewesen sein mag, einerseits | |
| einkassiert, andererseits aber nichts wirklich an ihre Stelle gestellt hat. | |
| Und: Dass die eigene Lebenszeit abläuft, während das Leben sonst | |
| weitergeht, bleibt ein Drama. Es mag sogar sein, dass es erst jetzt richtig | |
| als Drama empfunden wird. Mit einem lakonischen „Kurios“ wie der alte | |
| Konsul [2][Buddenbrook bei Thomas Mann] geht sowieso niemand mehr aus | |
| dieser Welt. Und ohne jetzt das große Religionsfass aufmachen zu wollen, | |
| kann man auf die aktuellen Studien verweisen, nach denen in unserer | |
| Gesellschaft der Glaube an ein Leben nach dem Tod stark zurückgegangen ist. | |
| Von da aus gibt es den – auch von mir gehegten – Wunsch, das „Mark des | |
| Lebens“, wie der Schriftsteller Henry David Thoreau das nannte, so lange | |
| wie möglich auszusaugen. Und dabei hat man mit immer mehr Senioren zu tun, | |
| die das genauso vorhaben wie man selbst. In absehbarer Zeit werde ich einer | |
| von ihnen sein. | |
| Subjektiv die meiste Lebenszeit hatte ich vor mir, als ich vierzig geworden | |
| bin. Als Jugendlicher denkt man eh nur bis zum nächsten Wochenende (The | |
| Cure: „Friday I’m in Love“), als Student nur bis zu den nächsten | |
| Semesterferien. Doch mit vierzig breitete sich eine ganze Landschaft an | |
| Zeit vor mir aus. Noch weitere vierzig Jahre bis zu den biblischen achtzig, | |
| ein gutes Vierteljahrhundert bis zur Rente. Eine unübersehbare Blumenwiese | |
| von zu gestaltender Zeit. | |
| Von der inzwischen die Hälfte abgelaufen ist. Und was jetzt noch folgt, ist | |
| vermutlich keineswegs die angenehmere Hälfte; außerdem läuft die Lebenszeit | |
| immer schneller ab. Das arbeitet in einem. Es ist kein lautes, | |
| extrovertiertes Drama vielleicht, aber doch ein leise simmerndes, eines, | |
| das innerlich schwelt. | |
| Was man zu diesem runden Geburtstag gesagt bekommt, hilft auch nicht immer | |
| weiter. Du bist nicht mehr jung, aber doch auch noch nicht alt, bekommt man | |
| gesagt. Und das stimmt vielleicht sogar. Aber, im Ernst, was bedeutet das | |
| genau? Was soll man damit anfangen? | |
| Du bist so jung, wie du dich fühlst, wird einem auch gesagt. Lieb gemeint. | |
| Aber, mit Verlaub, das ist ein bisschen Quatsch, zumindest stimmt es nicht | |
| nur. | |
| Es geht hier nämlich auch um Fremdbilder und eigene Internalisierungen. Es | |
| geht um gesellschaftliche Teilhabe und den Umgang mit sich verändernden | |
| Körpern – für Frauen noch einmal anders als für Männer, aber für Männer | |
| eben auch. Und es geht um die Verschiebungen im Altersaufbau unserer | |
| Gesellschaft und gleichzeitig darum, dass das eigene Altern und das Altern | |
| unserer Gesellschaft keineswegs deckungsgleich verlaufen müssen. Das alles | |
| ist mit Zuschreibungen verbunden, mit Bilanzierungen, Ängsten, Sorgen, halb | |
| vergessenen Sinnfragen. | |
| Dabei sind es alltäglich gar nicht die großen, schweren Dinge wie Tod, | |
| Vermächtnis und Ausgrenzung, die mich an mein Alter denken lassen, es sind | |
| die Details. Bei mir zum Beispiel die Fingernägel. Nicht nur die | |
| Fingernägel, da gibt es noch blöde Haare auf den Ohrmuscheln, kein | |
| Backenzahn mehr unüberkront, und dass das Kopfhaar lichter und grauer wird, | |
| ist eh klar, aber da sind eben auch die Fingernägel. Seit einiger Zeit sind | |
| sie seltsam brüchig und neigen dazu, scharfe Spitzen auszubilden. Das kenne | |
| ich von früher so nicht. | |
| Außerdem habe ich jetzt eine Gleitsichtbrille. Eine Gleitsichtbrille ist | |
| als Hinweis darauf, dass das Alter sich anschleicht, ein Klassiker. Und sie | |
| ist eine narzisstische Kränkung. | |
| Der Körper spricht. Die Zeichen, sie sind da. | |
| Oder es sind soziale Situationen. Wenn man bei einer Person, die so alt ist | |
| wie man selbst, die Falten und Hautflecken wahrnimmt, die man bei sich | |
| selbst lieber gnädig übersieht, beispielsweise. Oder wenn man mit einer | |
| neuen Kollegin in der Kantine zu Mittag isst und beim Smalltalk die in | |
| Berlin unvermeidliche Frage aufkommt, wann man denn hierhin gezogen sei. | |
| „Bei mir war das 1999“, höre ich mich sagen. | |
| Und die Kollegin sagt: „Cool, da bin ich gerade aufs Gymnasium gekommen.“ | |
| Und man verschweigt dann lieber, dass man 1999 schon zweifacher Vater | |
| gewesen ist, als Journalist auch kein Anfänger mehr war und sein Abitur im | |
| Jahre 1982 gemacht hat, als die Kollegin offensichtlich noch gar nicht | |
| geboren war. | |
| Manchmal gibt es auch einen kleinen Schock. Neulich stieß ich in einem | |
| Antiquariat auf eine Ausgabe der damals einflussreichen | |
| Vierteljahreszeitschrift Kursbuch mit dem Thema „Jugend“. Der Schock kam, | |
| als ich aufs Impressum schaute: Im Dezember 1978 ist sie erschienen. Ich | |
| kann mich noch erinnern. Der [3][erste Text von Rainald Goetz] steht drin, | |
| außerdem ein Text über „Diskotheken, Buden, Läden“ – damals sagte man … | |
| noch so – und eine Reportage über das Leben in WGs, als ob das noch etwas | |
| aufregend Neues wäre. | |
| Das alles war für mein damals schwankendes, hungrig nach Lebenserfahrungen | |
| gierendes Selbstverständnis wichtig. In der Gegenwart rechnete ich: 45 | |
| Jahre ist das her. In diesem Moment ging auch noch ein Wind durch die Bäume | |
| am Straßenrand, und man spürt mit einem Mal das Vergehen der Zeit und | |
| welche langen Entwicklungsbögen man schon hinter sich hat und was an | |
| Erlebtem man mit sich trägt. Das ist dann ein Moment, in dem die Gegenwart | |
| heftig gegen die eigene Vergangenheit ankämpfen muss. Es gibt ein | |
| Hippielied von einer Band namens Fairport Convention, „Who Knows Where The | |
| Time Goes“. Das fragt man sich dann. | |
| ## Mein Großvater trug Kaiser-Wilhelm-Bart | |
| Wenn ich von dieser Überlegung aus an die Menschen denke, die vor mir | |
| sechzig geworden sind, habe ich von durchwachsenen Erfahrungen zu erzählen. | |
| Mein Vater ist gar nicht erst so alt geworden, er starb mit 54 an Leukämie. | |
| Aber mein Großvater ist alt geworden – allerdings auf eine Weise, die schon | |
| in den siebziger Jahren, als er bei uns lebte, wie aus der Zeit gefallen | |
| schien. 1889 geboren, trug er, kaisertreu bis zum Schluss, noch in der | |
| peacigen alten Bundesrepublik einen Kaiser-Wilhelm-Bart, ging stets in | |
| Mantel und Hut aus dem Haus und wohnte in zwei Zimmern unseres | |
| Einfamilienhauses in schweren, dunklen Möbeln, die er nach dem Ersten | |
| Weltkrieg angeschafft hatte. | |
| Mein Großvater saß viel im Sessel, rauchte Zigarre und schaute in den | |
| Garten. Solche Erinnerungen vermitteln mir eine Anschauung davon, dass | |
| Altern früher einmal nicht wie heute mit Senioren in Funktionskleidung und | |
| auf E-Bikes, sondern mit würdigen, irgendwie gandalfhaft aussehenden | |
| Greisen assoziiert wurde, allerdings ohne die langen Haare. | |
| Tatsächlich war dabei der Abstand der Generationen zu meinem Großvater | |
| gigantisch. Als wir kleine Kinder gewesen sind, passte er noch gut auf mich | |
| und meine Geschwister auf. Aber spätestens als Jugendliche konnten wir im | |
| Prinzip gar nicht mehr mit ihm reden. Die hedonistischen Jugendkulturen der | |
| Siebziger müssen ihm wie der Einbruch der Barbarei vorbeigekommen sein, | |
| Wörter wie „Hottentottenmusik“ fielen. Und ich weiß noch, wie ich einmal | |
| versucht habe, ihm einen meiner ersten Taschenrechner zu erklären, einen | |
| Texas Instruments – gibt es die Marke überhaupt noch? | |
| Entgeistert starrte er auf die Ziffern im kleinen Display. Er verstand es | |
| schlicht nicht. So viel zum Beginn der Digitalisierung. | |
| Und die Menschen, auf die ich traf, als ich studierte? Ich glaube, dass | |
| viele von ihnen, etwas grob gesprochen, keinen rechten Zugang zu ihrem | |
| eigenen Altern gefunden haben. Man muss hier vorsichtig sein, um nicht in | |
| die undifferenzierten Muster der pauschalen Kritik an Achtundsechzigern | |
| oder Boomern zu verfallen, aber dass sie das eigene Altern wegschieben, ist | |
| nun einmal eine einschneidende Erfahrung, die man mit dieser Alterskohorte | |
| haben konnte. Alte Menschen, das waren für sie Relikte wie mein Großvater, | |
| und das waren auch zumindest mögliche und ziemlich oft eben auch | |
| tatsächliche Nazis. Und als sie selbst ins Alter kamen, ignorierten sie das | |
| erst einmal oder versuchten es zumindest. | |
| Ich kann mich gut an eine Szene mit Kurt Scheel erinnern, dem damaligen | |
| Herausgeber der Intellektuellenzeitschrift Merkur, auch wenn er kein | |
| typischer Achtundsechziger war. Wir waren damals beide in der Lesegruppe | |
| [4][um den Essayisten Michael Rutschky], die sich traf, um philosophische | |
| Klassiker zu besprechen. Kurt Scheel war gerade sechzig Jahre alt geworden. | |
| Er legte in der Runde all seine Schwere in den Satz: „Sechzig, das ist eine | |
| Beleidigung“, und er konnte viel Schwere in seine Sätze legen. | |
| ## Altwerden als Peinlichkeit | |
| Das eigene Altwerden, es war schlicht nicht vorgesehen. Es war eine | |
| Zumutung. Vielleicht sogar noch, irgendwo im Hinterkopf, ein Trick des | |
| kapitalistischen Systems (der letztere Gedanke bezieht sich nicht auf Kurt | |
| Scheel, aber ein bisschen schon auf viele aus seiner Alterskohorte). | |
| Einem anderen Bekannten von mir war es vor allem zutiefst peinlich, sechzig | |
| Jahre alt geworden zu sein. Er wollte gar nicht darauf angesprochen werden. | |
| Außerdem ist es noch gar nicht so lange her, dass der deutsche | |
| Kulturbetrieb von Matadoren beherrscht wurde, die sich entweder im Besitz | |
| ewiger eigener Schaffenskraft wähnten oder mit dem eigenen Alter gleich die | |
| Gesellschaft als Ganze untergehen sahen. | |
| „Nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.“ Der Vers stammt von Bertolt | |
| Brecht, aus dem Gedicht „Vom armen B.B.“, und stellt so ziemlich das | |
| Gegenteil zu den pädagogischen Ermutigungen dar, mit denen heutige | |
| Berufsanfänger zum Glück inzwischen versehen werden. | |
| Ich habe den Vers früher ziemlich oft von Achtundsechzigern gehört. Viele | |
| ihrer Generation haben ihn geglaubt. Sie durften aus ihrer Sicht allein | |
| schon deshalb nicht alt werden, weil sie ihren Nachfolgern ihre Nachfolge | |
| nicht zutrauten. Nach lange eingeübten Mustern des Vater-Sohn-Konflikts | |
| gingen sie erst gegen ihre eigene Vätergeneration an und dann, selbst Vater | |
| geworden, gegen ihre Söhne. | |
| Alles Männer? Ja, alles Männer. Frauen kamen, außer Christa Wolf | |
| vielleicht, außerhalb ihrer jeweiligen Familie kaum ins Bild. Sie müssen | |
| sich jetzt – als Pionierinnen einer neuen Form alt zu werden – noch einmal | |
| ganz anders fühlen als ich. Aus meiner Unizeit kann ich mich an eine | |
| einzige Professorin erinnern, und die freute sich sehr darüber, als ihre | |
| Studentinnen ihr erzählten, dass es doch gar nicht mehr schlimm und im | |
| Übrigen auch gar nicht mehr entsexualisierend sei, wenn Frauen Brillen | |
| tragen würden. | |
| Insofern kann ich Iris Radisch gut verstehen, [5][die neulich in der Zeit | |
| einen interessanten Artikel über ihren Umgang mit dem Altern geschrieben | |
| hat]. Die 1959 geborene Literaturkritikerin schreibt: „Anders als meiner | |
| Großmutter fehlen mir Vorbilder und starke Erzählungen über das, was mir | |
| gerade passiert. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich auf die | |
| Suche nach einer guten Geschichte für das Altwerden zu machen.“ | |
| Ohne die spezifischen Geschlechtserfahrungen verwischen zu wollen: Auch als | |
| Mann können einem solche Vorbilder fehlen. Stattdessen hat man schnell eine | |
| ganze Reihe von Beispielen im Hinterkopf, wie man selbst nicht gern alt | |
| werden möchte. | |
| Wobei es auch viele Ausnahmen von der Keine-Vorbilder-Regel gibt. Was ist | |
| etwa mit Hans Magnus Enzensberger oder Dieter Wellershoff oder neuerdings | |
| mit Helga Schubert? Bei Annie Ernaux ist man sich, jenseits ihrer | |
| literarischen Bedeutung, wiederum nicht so sicher. | |
| Eine große Ausnahme in meinem Bekanntenkreis sind Katharina und Michael | |
| Rutschky gewesen. Sie gehörten zu den wenigen Intellektuellen ihrer | |
| Generation, die sich aktiv um den Nachwuchs gekümmert haben. Wobei das im | |
| Fall von Michael Rutschky mit Ambivalenzen verbunden war. Er pflegte starre | |
| Vorstellungen davon, wie „der Jungmensch“ – Rutschkys Begriff – so ist, | |
| nämlich hübsch (beide Geschlechter), bei aller Klugheit ein bisschen naiv | |
| und formbar. Wie man spätestens aus seinen Tagebüchern wissen kann, waren | |
| ihm zudem Altersdepressionen keineswegs fremd. Und statt Fitnessübungen zu | |
| machen, wie heutzutage üblich, hat er als Fotograf mit der Kamera den | |
| Verfall seines Körpers begleitet. | |
| Als Dokument, wie es ist, als Mann seiner Generation alt zu werden und | |
| dabei die Welt aus den eigenen Fingern gleiten zu sehen, sind seine späten | |
| Tagebücher tatsächlich bedeutsam. | |
| Zu den Klischees über das Altern gehört, dass man neidisch und auch | |
| sehnsüchtig auf junge Leute schaut. Das kann ich für mich nicht bestätigen. | |
| An ein unbeschwertes Jungsein habe ich nie geglaubt. Vielmehr ist da auch | |
| viel überkommenes deutsches Ursprungsdenken im Spiel, das besagt, dass die | |
| Reinheit an der Quelle und in den Anfängen sitzt und der ganze Fortgang im | |
| Grunde Dekadenz und eine Verfallsform des Anfangs darstellt. Das muss man | |
| nicht mitmachen. | |
| Was für mich zutrifft, ist aber wohl, dass ich sozusagen rückwärts auf mein | |
| Altern zugegangen bin. Ich habe mich ihm genähert, ohne genau hinzusehen, | |
| was auf mich zukommt, dafür den Blick mit Unbehagen zurückgerichtet auf | |
| Modelle, wie ich auf gar keinen Fall alt werden möchte. | |
| Ich wundere mich selbst darüber, wie vehement solche Bilder vom Alter noch | |
| in meinem Kopf sind, also entweder Herren und Damen beim Kaffeekranz mit | |
| Hut auf dem Kopf oder Siebzigjährige, die wild zu „I can’t get no | |
| satisfaction“ abhotten. Aber vielleicht ist das auch gar nicht | |
| verwunderlich, wenn man sich überlegt, dass noch nie in der Geschichte der | |
| Bundesrepublik eine so breite, so ausdifferenzierte, auch so gut | |
| ausgebildete und weiterhin hedonistisch eingestellte Alterskohorte ins | |
| Alter kommt wie in der Gegenwart. Da ist vieles auch einfach Neuland und | |
| noch nie so dagewesen und muss erst neu in den kollektiven Bilderhaushalt | |
| eingepflegt werden. | |
| Ins Alter kommen jetzt eben nicht mehr diejenigen, die Achtundsechzig auf | |
| den Barrikaden standen. Nicht die Anti-AKW-Inis, nicht die Grünen, nicht | |
| die taz. Die haben ihre Erfahrungen mit dem neuen Lebensalter bereits | |
| gemacht. Jetzt kommt die Generation danach ins Alter. Die Jahrgänge 1963 | |
| und 1964 sind im vergangenen Jahr sechzig Jahre alt geworden oder werden es | |
| in diesem Jahr. Das sind die geburtenstärksten Jahrgänge der alten | |
| Bundesrepublik, die von vor dem Pillenknick. Es sind viele. Ich bin einer | |
| von ihnen. | |
| Was damit verbunden ist: Das sind diejenigen Leute, von denen viele in | |
| ihrer Biografie entscheidende Punkte möglichst weit nach hinten geschoben | |
| haben. Spät in den Beruf eingestiegen, spät Familien gegründet, gerade erst | |
| an das Fünfzigsein gewöhnt, da müssen wir schon sechzig sein und uns | |
| plötzlich womöglich beeilen, um vom Rest des Lebens noch etwas zu haben. | |
| Ich will hier gar nicht allzu sehr in das Generationsschema verfallen – | |
| Altwerden ist ja auch ein intimer, ein individueller Vorgang –, aber ein | |
| weiterer Anlauf in der Wir-Perspektive sei mir noch gestattet: Wir konnten | |
| uns schon mit den Twentysomethings identifizieren, obwohl wir in den | |
| Neunzigern, als der Begriff aufkam, teilweise schon Thirtysomethings waren. | |
| Dann wurden wir Fourtysomethings, und ich erinnere mich noch genau, dass es | |
| um meinen fünfzigsten Geburtstag herum war, als ich zum ersten Mal das Wort | |
| Sixtysomethings in einem Text erwähnte. | |
| Das war von mir damals aber noch ironisch gemeint. Die Endung -something | |
| drückt ja nicht nur das ungefähre Alter aus, sondern auch eine gewisse | |
| stets vorläufig bleibende Lebenseinstellung, ein Nichtfertigsein. Das | |
| konnte ich noch vor zehn Jahren nicht mit der Sechzig zusammenbringen. | |
| Jetzt kann ich es. Ich habe, auch wenn ich es nie erwartet hätte, nichts | |
| dagegen, als Sixtysomething durchs Leben zu gehen. Auf jeden Fall ist mir | |
| das lieber, als, wie das auch schon passiert ist, von Kollegen umstandslos | |
| in den Topf der Boomer geworfen zu werden. | |
| ## Endlich Stabilität? Pustekuchen! | |
| Wobei das alles wiederum keinesfalls heißen soll, dass ich mich vom Alter | |
| distanzieren möchte. Man wird nicht nur alt gemacht. Man wird schon auch | |
| alt. Oder, genauer: Es gibt, ohne dass sie das Ganze der Person ausmachen | |
| würden, Aspekte des eigenen Selbst, die auch ich als Alterungsphänomene | |
| begreifen würde. So bleiben die Eingänge und Hintertüren für neue | |
| Erfahrungen durchaus geöffnet, aber diese neuen Erfahrungen müssen sich | |
| eben einordnen in ein vorhandenes Reservoir von Eindrücken. | |
| Eine Freundin, die in diesen Tagen sechzig wird, brachte ihre Verwunderung | |
| über ihr Alter neulich gut auf den Punkt. „Ich dachte, man hätte es dann | |
| hinter sich“, sagte sie und meinte damit die kleinen und gelegentlich auch | |
| größeren Dramen und Krisen, die damit verbunden sind, seine Identität, | |
| seine Rolle im Leben und seine Position in dieser Gesellschaft zu finden. | |
| Sie hatte wirklich geglaubt, das sei mit sechzig alles festgelegt – ob nun | |
| im Guten oder im Schlechten – und im eigenen Leben sei Stabilität | |
| angekommen. | |
| Pustekuchen. Die Ich-Dramen mögen sich verändern, aber dass welche da sind, | |
| das geht weiter, so viel habe ich inzwischen auch schon mitgekriegt. Neue | |
| Herausforderungen können sowieso dazukommen. Kinder aus dem Haus, die | |
| eigenen Eltern sind inzwischen gegangen – nach der Sandwichphase stehen | |
| jetzt für manche letzte, entscheidende Karriereschritte an, für andere aber | |
| auch, sein Leben wieder mehr aus sich heraus zu organisieren, was eigene | |
| Schwierigkeiten bietet. | |
| Außerdem wird sich mit unserem Eintritt ins Altern sowieso vieles ändern. | |
| Zum Beispiel wird sich, auch wenn sich das paradox anhört, das Jungsein | |
| ändern. Es ist etwas anderes, ob man bei Familienfeiern als eines von | |
| vielen Kindern am Nebentisch unter sich sitzt, so wie wir damals, oder ob | |
| man als einzelnes Wunschkind inmitten von Omas und Onkeln alle | |
| Aufmerksamkeit auf sich zieht – da kommen dann andere Persönlichkeiten | |
| heraus mit anderen Möglichkeiten, aber auch mit anderen Herausforderungen. | |
| Der Arbeitsmarkt wird sich ändern, die Rentensätze werden bestimmt weiter | |
| sinken, die Abfertigungsgeschwindigkeit an den Supermarktkassen wird sich | |
| verlangsamen. Die Kinofilme ändern sich jetzt schon, was mir beim neuen | |
| „Indiana Jones“ besonders aufgefallen ist. Zuerst habe ich mir beim | |
| Zugucken noch Sorgen gemacht, ob der alternde Indy mit der jungen | |
| Assistentin, mit der er zusammen die Abenteuer besteht, in Richtung | |
| Liebesschmonzette gehen könnte. Aber nein, der Altersabstand wird zum Glück | |
| stets mitreflektiert, und am Schluss kommt Indy mit seiner gleich alten | |
| Exfrau wieder zusammen. Das wirkte auch kitschig, aber immerhin nicht | |
| restlos peinlich. | |
| Vor allem wird sich aber natürlich das Alter selbst ausdifferenzieren. | |
| Fitte Senioren werden durch die Parks radeln. Pflegeheime werden boomen. | |
| Klar, das ist auch jetzt schon so. Aber es ist etwas anderes, ob man davon | |
| unbeteiligt in der Zeitung liest oder ob man das auf sich selbst bezieht. | |
| In den nächsten Jahren werden die existenzielle Ausdifferenzierung zwischen | |
| fitten und pflegebedürftigen Älteren immer mehr Menschen auf sich beziehen. | |
| Unter meinen Bekannten und Kollegen finde ich dabei eigentlich ermutigend | |
| viele Beispiele, die mit dem Sechzigsein ganz gut umgehen. Womöglich halbe | |
| Stelle, wenn man es sich leisten kann, Gärtnern im Schrebergarten, wenn man | |
| einen Garten hat, Enkel, wenn welche da sind, Anmeldung in der Digital | |
| Concert Hall oder bei einem Chor, wenn man denn Lust drauf hat – so bastelt | |
| man sich in einer Mischung aus Arrangement mit der Lage, etwas Hedonismus | |
| und einem Daumendrücken, dass das wirkliche Alter noch auf sich warten | |
| lässt, den Übergang in die neue Lebensphase zurecht. Andere kriegen es | |
| vielleicht nicht so gut hin. Die Sechzigjährigen sind ja auch keine in sich | |
| geschlossene Gruppe; zu beobachten sind eher vielfältige Versuche, jeweils | |
| das Beste aus den Gegebenheiten und individuellen Möglichkeiten zu machen. | |
| Vielleicht spricht sogar vieles dafür, dass man niemals in der Geschichte | |
| so entspannt und auf vielfältige Weise sechzig werden konnte, wie man es | |
| heute kann. Auf der Ebene der gesellschaftlichen Bilder und Erzählungen | |
| über diese Phase ist man aber, denke ich, noch nicht so weit. | |
| Wenn man das Tor der Sechzig durchschritten hat, traf man traditionell auf | |
| zwei Begriffe, die wie Portalsfiguren auf beiden Seiten des Durchgangs | |
| standen: „Verfall“ lautet der eine, „Reife“ der andere. Diese Begriffe | |
| stehen immer noch da, wenn auch inzwischen angebröselt und auch ein | |
| bisschen wacklig, und um gute Beschreibungen dieser Lebensphase zu | |
| entwickeln, muss man wohl genau aufpassen, was an ihnen überkommenes Bild | |
| und was Realität ist. | |
| Was den Verfall betrifft, so ist vieles inzwischen individuelle | |
| Körperlotterie, man kann Glück oder Pech haben (wobei im Hintergrund auch | |
| Klassenfragen stehen, in einem akademischen Schreibtischjob kann man sich | |
| besser pflegen als als Paketbote). Zu berücksichtigen ist vor allem aber | |
| auch, dass es bei den vielfältigen Freizeittätigkeiten heutiger Senioren | |
| keineswegs nur um Fitness und das Aufhalten des Verfalls geht. | |
| Lustigerweise stieß ich in der Besprechung einer | |
| literaturwissenschaftlichen Arbeit zum Spätwerk von Goethe auf einen | |
| Begriff, der hier ganz gut passt: „Präsenzerfahrungen“. Goethe habe sich, | |
| so hieß es da, im Alter noch einmal besonders mit den Künsten beschäftigt, | |
| um sich „so intensiv wie möglich im Leben zu verankern“. Genau das und eben | |
| nicht nur Fitness suchen heutige Senioren beim Radfahren, Wandern, Jogging | |
| auch. Ich musste erst selbst sechzig werden, bevor mir das aufging. Dabei | |
| kenne ich das schon vom Yoga, das ich seit ein paar Jahren praktiziere. | |
| Wenn das jemand auf „Entspannung“ reduziert, kommt mir das auch unpassend | |
| vor. Es geht wirklich um die Erfahrung von Präsenz. | |
| Und was die Reife betrifft: „Mein langer Lauf zu mir selbst“ hieß ein Buch, | |
| das Joschka Fischer geschrieben hat, bevor er sechzig wurde. Natürlich hat | |
| man diese Idee des Bei-sich-Ankommens weiterhin im Hinterkopf, und | |
| zumindest eine realistische Vorstellung von seinem eigenen Leben sollte man | |
| mit sechzig auch endgültig entwickelt haben, aber ein bisschen kichert man | |
| für sich auch darüber, oder? Reife, bei sich ankommen – das klingt wie ein | |
| letztes Klammern an bildungsbürgerliche Vorstellungen von Normalbiografien. | |
| Statt möglichst lange Fitness performen oder in irgendeiner Weise bei einem | |
| ominösen „mir“ ankommen zu müssen, von dem ich nicht genau weiß, was das | |
| sein soll, würde ich mir für meine nun anstehende Lebensphase etwas anderes | |
| wünschen: dass sich gesellschaftliche gute, handhabbare und auch produktive | |
| Mechanismen herausbilden werden, mit den anstehenden inneren Krisen | |
| umzugehen. | |
| Diese Krisen werden kommen, vielleicht nicht alles verschlingend, | |
| hoffentlich nicht, aber möglicherweise als Grundton. „Liegt es nicht wie | |
| ein leichter Staub auf den Dingen dieser Welt?“, diesen Satz von Wilhelm | |
| Raabe postete neulich ein Facebook-Freund. | |
| Staub auf den Dingen – was Raabe, ein Autor aus dem 19. Jahrhundert, hier | |
| formuliert, ist die Möglichkeit einer Altersdepression. Es kann gut sein, | |
| dass der Umgang mit solchen Krisenphänomenen so wichtig werden wird wie vor | |
| einigen Jahren die gefühlt flächendeckende Beschäftigung mit Burnouts. | |
| Schließlich sind alle Übergänge im Leben mit Krisen verbunden, und wenn der | |
| Übergang zum Alter sich so massenhaft vollzieht wie in meinem | |
| Geburtsjahrgang, wird sich das bemerkbar machen. | |
| Es gehört zu den großen zivilisatorischen Errungenschaften des späteren 20. | |
| Jahrhunderts, dass Lebensübergänge verstanden und wichtig genommen werden. | |
| Meine Elterngeneration hielt Pubertät noch für ein Fremdwort. Inzwischen | |
| ist sie nicht nur normal, sondern längst auch ein wichtiger Zweig der | |
| Kulturindustrie. Etwas Ähnliches ist, wenn auch nicht so offensiv | |
| propagiert, mit der Midlife-Crisis passiert. Ich-Suche und mögliche | |
| Neuorientierung in der Lebensmitte sind sogar Produktivkräfte unser | |
| Gesellschaft geworden. | |
| Womöglich steht jetzt mit dem Sechzigwerden der geburtenstärksten Jahrgänge | |
| so etwas mit den Krisen des Alterns an. Schon jetzt erscheinen viele | |
| Bücher, die sich gegen Altersdiskriminierung, die jetzt Ageism heißt, | |
| wenden und in denen Autor:innen jenseits der Sechzig Sichtbarkeit und | |
| Terrain behaupten wollen. Dagegen möchte ich auch gar nichts sagen, schon | |
| aus Eigeninteresse nicht. | |
| Aber bei mir kommt noch etwas hinzu, und ich glaube, dass das vielen | |
| derjenigen, die hier und heute sechzig werden, zumindest in ihren stillen | |
| Momenten auch so geht. Es geht darum, eine anstehende allmähliche | |
| Rückbesinnung auf einen selbst mit einem hoffentlich weiter bestehenden | |
| Offensein fürs Ganze zu koordinieren – was sich leichter hinschreiben als | |
| tatsächlich umsetzen lässt. Es geht darum, mit der Verletzlichkeit und | |
| Dünnhäutigkeit umzugehen, die damit verbunden ist, in absehbarer Zeit | |
| loslassen zu müssen. Und es geht darum, den Momenten von Verlorenheit und | |
| Mutlosigkeit, die kommen werden, immer etwas entgegenzusetzen. | |
| Manchmal stehe ich vor dem Spiegel, und mein neues Lebensalter redet mit | |
| mir. Nicht wirklich natürlich, aber irgendwie schon. | |
| „Ich bin real“, sagt es dann. | |
| Und ich antworte, je nach Tagesverfassung, mit: „Ist mir auch schon | |
| aufgefallen.“ Oder mit: „Na und, mir doch egal.“ | |
| Oder wir schauen uns ernsthaft in die Augen, und ich stelle mir nur für | |
| mich die Frage: „Was denkst du eigentlich wirklich über dein Alter?“ Und | |
| ich muss mir eingestehen, dass ich dann manchmal einen seltsamen Gedanken | |
| im Kopf habe: Wenn sie nicht ausgerechnet mit dem eigenen Altern verbunden | |
| wäre, könnte die neue Lebensphase sogar ganz spannend werden. | |
| 25 Feb 2024 | |
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| Die Hamburger Autorinnen Katrin Seddig und Ella Carina Werner über | |
| bauchtanzende Mütter, das Recht zu klagen und die Komik der Midlife-Crisis. | |
| Überteuerte Pflegeheime: Altern in guter Gesellschaft | |
| Ein Platz in einem Pflegeheim ist nahezu unerschwinglich geworden. Die | |
| Kommunen müssen jetzt radikal umdenken. | |
| Diversität und Alter: Neue Vorbilder braucht das Alter | |
| Für eine alternde Frau gab es früher nur wenige Rollenmodelle. Das ändert | |
| sich zum Glück. Neue Maßstäbe setzten zuletzt Jodie Foster oder Joni | |
| Mitchell. | |
| Altern und Altsein: An der Zitronentafel des Lebens | |
| In „Die Reisende der Nacht“ klagt Laure Adler die gesellschaftliche | |
| Missachtung der Ältesten an. In Frankreich ein Thema, das gerade entdeckt | |
| wird. | |
| Essay zu Schriftsteller Michael Rutschky: Mit Madonna auf der Autobahn | |
| Der Autor Marc Degens führt mit einem Essay über Schriftsteller Michael | |
| Rutschky vor, wie autofiktionales Schreiben sein kann: „Selfie ohne | |
| Selbst“. |