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# taz.de -- Tagebücher von Michael Rutschky: Alles erscheint so fern
> Eine weitere Folge von Michael Rutschkys Tagebuchaufzeichnungen: Der Band
> „In die neue Zeit“ handelt von der Zeit um die Wende.
Bild: Ganz wohl ist Rutschky nicht auf dieser Welt
Der Titel klingt wie die Texttafel eines Stummfilms; auf dem Titelbild
sieht man einen Elefanten, der zwischen fröhlich und tolpatschig sein
linkes Hinterbein hebt, vor alten Häusern und im Hintergrund der
Fernsehturm am Alexanderplatz, „im Nebel jener Zeit“ sozusagen. Alles
erscheint so fern, wie das Schwarz-Weiß-Foto im Hochformat vom 14.November
1988, mit dem das neue Rutschky-Buch beginnt. Ein junger Mann ist zu sehen,
im Gegenlicht auf einem Gehweg im Zentrum der Hauptstadt der DDR.
Ein typisches Alltagsfoto, wie es auch in der Zeitschrift Der Alltag, die
Michael Rutschky von 1985 bis 1997 herausgegeben hatte, hätte abgebildet
sein können oder in den Alltagsfeuilletons der Frankfurter Rundschau, die
leider irgendwann Ende der neunziger Jahre eingestellt wurde.
In seinem Vorgängerbuch „Mitgeschrieben“ hatte Rutschky
Tagebuchaufzeichnungen von 1981 bis 1984 veröffentlicht. Mit „In die neue
Zeit“ setzt er diese Aufzeichnungen fort, wobei er die Jahre zwischen 1985
und 1987 ausspart. Es geht um den Zeitraum von 1988 bis 1992. Berlin Ost
und West. Mauerfall. Rutschky war oft in Ostberlin. Verschiedene Reisen
nach Japan oder die USA. Ausflüge ins Umland. Wyk auf Föhr.
Notizen, Beobachtungen, Szenen, in sich vollendet, die keine große
Geschichte erzählen wollen und teilweise recht lustig sind, wie die
Begegnung mit einem inzwischen bekannten Maler: „Als R. vom Ku’damm kommend
die Joachimstaler hinuntergeht, da fährt, es ist nicht zu glauben, ein
nagelneuer Jaguar an ihm vorbei, am Steuer Dieter Hacker, dünner geworden,
was ihm gut steht, mit einem ungreifbaren Lächeln im Gesicht, als werde er
gefilmt, als lägen die Blicke der Welt auf ihm. Dabei liegen sie auf R.!“.
Ganz wohl ist Rutschky nicht auf dieser Welt, obwohl er mit seiner Frau
Katharina lebt. Am Buffet fühlt er sich unsicher, ist oft schüchtern.
Passanten, die er zu Weihnachten auf der Straße sieht, hält er für
„Ausgeschlossene wie sich selbst“.
## In der dritten Person schreiben
„Das Leben kann dem Aufgeklärten keinen Spaß machen“, denkt er adornomä�…
und so geht er nach manchen Abenden „voller Depressionen nach Hause“. In
Cafés und Restaurants fühlt er sich zu alt und glaubt, als engagierter
Mittvierziger „eine peinliche Figur zu machen“. Junge Leute sind ihm
suspekt. Musik interessiert ihn nicht; jedenfalls wird im Buch kein
einziges Musikstück genannt.
Dafür gibt es viele Traumberichte. In einem kommt auch Rainald Goetz vor,
einer der Helden des vorherigen Buchs: „Am oberen Rand der Weide haust, wie
sie wissen, Rainald Goetz als religiöser Einsiedler.“ Von jungen Leuten
spricht er als „Jungmenschen“, gern auch: „frische“, wobei er die jungen
Leute, mit denen er sich trifft, wie den Exkollegen Jörg Lau, nicht als
„Jungmenschen“ denunziert. In einem Gespräch mit der Mutter eines
vielbeschäftigten Elfjährigen sagt er, „sie sehen so hübsch und glücklich
aus, die Jungmenschen.“ Und wenn er sich erinnert: „Wie schrecklich fühlte
sich das Jungsein von innen an.“
Rutschky schreibt seine Tagebücher in der dritten Person. Vielleicht
schützt sie vor grübelndem Innenleben. Wo ich war, soll R. sein. Er erzählt
von Todesfällen und Krankheiten in seiner Umgebung, von Telefonaten mit der
Mutter, vom Fotografieren, von Helden im Schwimmbad, von der männlichen
Scham, über den eigenen Körper zu reden, die dem damaligen Bundeskanzler
Kohl abging. Erwähnung finden sein alter Freund Kurt Scheel sowie Harry
Nutt, Karl Heinz Bohrer, Elke Schmitter, eine taz-Redakteurin, die ihm
Avancen macht, auch ehemalige Mitglieder des SDS tauchen kurz auf, um dann
wieder zu verschwinden.
## Pornos im TV
Manchmal, beim Baden, versucht er, Körper „zu lesen“, wie man so vieles in
dieser Zeit „zu lesen“ begann. Ende November 1989 notiert Rutschky nach
Spaziergängen: „Die Mauer, die sich in ihrem Aussehen völlig gleich blieb,
scheint ihren Seinszustand gewechselt zu haben: Sie existierten
vollkommener Harmlosigkeit, als Ruine.“
In der Ostprovinz vertreten „biedere ältere Muttis“ mit großer
Selbstverständlichkeit die These, „dass das Fernsehen Pornografie senden
sollte, ohne jede Einschränkung, warum denn nicht?“ Im Westen empört sich
eine Startbahn-West-Aktivistin über den Staat: „Einerseits gibt es den
Staat, das sind wir; andererseits eine Art Parasit, der sich der ‚Staat‘
nennt – man kann deutlich erkennen, wie dieser Parasit an Iskra Lebenskraft
saugt – wie ihm der Kampf dagegen frische Lebenskraft verschafft.“
Rutschkys „In die neue Zeit“ ist ein entspanntes, schönes Buch, das sich
beim Lesen im eigenen Kopf fortschreibt. Keine Ahnung, wie es Lesern
ergeht, die in der Nachwendezeit nicht in Berlin gelebt haben.
24 Oct 2017
## AUTOREN
Detlef Kuhlbrodt
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