| # taz.de -- Presse in Ostdeutschland: Wer streichelt unsere Seele? | |
| > Die Ostdeutschen haben den überregionalen Medien mit Sitz in der alten | |
| > BRD den Rücken gekehrt. Ist Re-Ossifizierung die Lösung? | |
| Bild: Sind die Tage der Tageszeitung „Neues Deutschland“ gezählt? | |
| Mit der Presse im Osten sieht es mau aus. Das unterstreicht ein neues | |
| Diskussionspapier der Otto-Brenner-Stiftung. Der Kommunikationsforscher | |
| Lutz Mükke hat die Entwicklung der Medien in Ostdeutschland seit der Wende | |
| untersucht. [1][„30 Jahre staatliche Einheit – 30 Jahre mediale Spaltung“ | |
| heißt seine sehr lesenswerte Analyse.] | |
| Überraschend sind vor allem drei Zahlen: 2,5 Prozent ihrer Gesamtauflage | |
| verkauft die Süddeutsche Zeitung in den Neuen Bundesländern. 3,4 Prozent | |
| sind es bei der FAZ, etwa 4 Prozent beim Spiegel. Bei der taz sind es, das | |
| steht nicht in der Studie, rund 6 Prozent. Berlin wird jeweils nicht | |
| mitgerechnet. Die Ostdeutschen lesen also keine Zeitungen, zumindest keine | |
| überregionalen mit Sitz in der alten BRD. Als ich angefangen habe, bei der | |
| taz zu arbeiten, sagte mir eine Erfurter Verwandte: „taz oder FAZ, das ist | |
| doch alles dasselbe!“ | |
| Dabei war die DDR ein florierendes Zeitungsland: 39 Tageszeitungen gab es | |
| 1989 in der DDR. Zusammen hatten sie eine Auflage von etwa 10 Millionen. In | |
| so gut wie jedem Briefkasten steckte morgens eine Zeitung. Nur waren die | |
| meisten Verkündigungsblätter der SED. „Leipzig fördert den friedlichen | |
| Welthandel zum Nutzen der Völker“, titelte das Neue Deutschland 1987 zur | |
| Eröffnung der Leipziger Messe und druckte dazu 43 Fotos von Erich Honecker. | |
| Sozialistische Pressefreiheit. | |
| Nach der Wende entstanden um die 100 neue Zeitungen, 30 aus | |
| Bürgerrechtskreisen. Überlebt hat kaum eine. Die Westverlage rissen sich | |
| zum Teil unter Umgehung der Treuhand und des Kartellrechts [2][und mit | |
| wärmster Empfehlung von Kanzler Kohl] die Ostzeitungen unter den Nagel. Sie | |
| besetzten die Chefredaktionen mit ihren Leuten. | |
| ## Der Osten kriegt den Kinderkanal | |
| Bis heute haben die meisten Regionalzeitungen im Osten einen westdeutschen | |
| Chefredakteur und einen westdeutschen Verlag. Ostdeutsche Chefredakteure in | |
| westdeutschen Zeitungen gibt es hingegen so gut wie nicht. Von den 50 | |
| sogenannten Gemeinschaftseinrichtungen der ARD sitzt eine in den Neuen | |
| Bundesländern, der Kinderkanal in Erfurt. Das meint die CDU in | |
| Sachsen-Anhalt, wenn sie sagt, der öffentlich-rechtliche Rundfunk spiegele | |
| den Osten kaum wider. Identitätspolitik made by Konservativen. | |
| Es mangelt also an Ostdeutschen in den meisten Medien, und somit auch an | |
| ostdeutschen Sichtweisen und Themen. Also zumindest an denen, die über die | |
| Ostquadriga von Nazis, Stasi, Leerstand, Doping hinausgehen. Ich will hier | |
| nicht die Leier der armen Ossis abspulen, denen niemand zuhört. Ich will | |
| nur verstehen, wie es kommt, dass der Schlachtruf „Lügenpresse“ im Osten | |
| lauter, [3][die Aggression gegen JournalistInnen härter] und [4][die | |
| Ablehnung des Rundfunks vonseiten der Politiker eiserner ist.] | |
| Und wie ließe sich das ändern? Eine Antwort ist die Ostquote, die mehr | |
| Ostdeutsche in die Journalistenschulen, die Zeitungen und Sender spülen | |
| soll; eine andere die (Re-)Ossifizierung gesamter Redaktionen. Man kann das | |
| bei der Berliner Zeitung beobachten, die, seit sie von den ostdeutschen | |
| Influencern Silke und Holger Friedrich gekauft wurde, verstärkt die | |
| ostdeutsche Seele streichelt. | |
| Die andere prominente Alt-SED-Überlebende, das Neue Deutschland, kämpft | |
| gerade um ihr Überleben. Das wird ihr wohl nur gelingen, [5][wenn sie sich | |
| bis Jahresende in eine Genossenschaft wandelt.] Wer braucht die schon?, | |
| witzelt es in einigen Westredaktionen. | |
| Vielleicht ja ein paar von den 95 Prozent Ostdeutschen, die keine | |
| westdeutsche überregionale Tageszeitung lesen. | |
| 9 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/informationsseiten… | |
| [2] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13488177.html | |
| [3] /Angriffe-auf-Journalistinnen/!5743093 | |
| [4] /Streit-um-Rundfunkgebuehren/!5730999 | |
| [5] /Zukunft-der-sozialistischen-Tageszeitung/!5749591 | |
| ## AUTOREN | |
| Anne Fromm | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Neues Deutschland | |
| Kolumne Unter Druck | |
| Deutsche Einheit | |
| Schwerpunkt Ostdeutschland | |
| Kolumne Flimmern und Rauschen | |
| Schwerpunkt Neues Deutschland | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Westen | |
| Schwerpunkt Neues Deutschland | |
| BRD | |
| Deutsche Einheit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Bedeutung von Lokalzeitungen: Die Einzeitungskreise | |
| In vielen Regionen gibt es keine Konkurrenz auf dem lokalen Zeitungsmarkt. | |
| Das schafft Distanz zwischen Medien und Konsument:innen. | |
| Tageszeitung „Neues Deutschland“: „ND“ gründet Genossenschaft | |
| Die Mitarbeiter:innen der linken Zeitung „Neues Deutschland“ haben | |
| sich für die neue Existenzform entschieden. Ein Verband muss noch | |
| zustimmen. | |
| Pressefreiheit in Gefahr: Unter Druck | |
| Gewalt gegen Journalist:innen hat massiv zugenommen. Vor allem auf | |
| Querdenker-Demos kommt es immer wieder zu Übergriffen. Woher rührt der | |
| Hass? | |
| Interview mit ehemaligem UN-Berater: „Der Westen hat den Osten gekauft“ | |
| Osteuropa fühlt sich als der wahre Verteidiger westlicher Werte, sagt der | |
| Autor Norbert Mappes-Niediek. Dabei bleibe es letztlich doch außen vor. | |
| Zukunft der sozialistischen Tageszeitung: Ist das ND nah? | |
| Die Tageszeitung „Neues Deutschland“ soll eine Genossenschaft werden. So | |
| wollen es ihre Gesellschafter, zu der auch Die Linke gehört. | |
| Geschichte der BRD: Ein intellektuelles Panorama | |
| Axel Schildt rekonstruiert die Geburt der bundesrepublikanischen | |
| Medienintellektuellen aus den Trümmern des „Dritten Reiches“. | |
| Medienforscherin über Ost-Zeitungen: „Überlebt haben fast keine“ | |
| 1990 gründeten sich 120 neue Zeitungen in der DDR. Was wurde aus ihnen? | |
| Warum etablierte sich keine Ostpresse im Westen? Das untersucht Mandy | |
| Tröger. |