# taz.de -- Interview mit ehemaligem UN-Berater: „Der Westen hat den Osten ge… | |
> Osteuropa fühlt sich als der wahre Verteidiger westlicher Werte, sagt der | |
> Autor Norbert Mappes-Niediek. Dabei bleibe es letztlich doch außen vor. | |
Bild: Nachbar kann man werden: Der frühere UN-Berater und Autor Norbert Mappes… | |
taz: Herr Mappes-Niediek, Sie sind seit den 1990er Jahren Korrespondent für | |
Südosteuropa. Den Osten gibt es seit 30 Jahren nicht mehr, aber am Blick | |
des Westens auf den Osten scheint sich nichts geändert zu haben. | |
Norbert Mappes-Niediek: Daran hat sich in tausend Jahren nicht viel | |
geändert. Der Westen ist das Zentrum, der [1][Osten] die Peripherie. Der | |
Westen ist immer der Maßstab, mal als Vorbild, mal als Reibebaum. Mal | |
eifert der Osten ihm nach, mal rebelliert er gegen ihn. | |
Die Sozialismusexperimente sind also nicht der Grund allen Übels? | |
1991 dachte man im Westen und im Osten: Wenn erst der Kommunismus | |
verschwunden ist, kommen lauter neue westliche Nationen zum Vorschein. | |
Rumänien würde von Dänemark, was Wohlstand und politische Kultur betrifft, | |
nicht mehr zu unterscheiden sein. Es ist aber ganz anders gekommen. Wir | |
denken im Westen gern, Europa ist das gelobte Land. Aber wenn heute ein | |
Flüchtender aus der türkischen Mittelmeerstadt Edirne kommt und beim | |
Eintritt in die EU auf die Industriebrache des bulgarischen Svilengrad | |
trifft, hat er das Gefühl, [2][er läuft in Richtung Elend] und nicht in | |
Richtung Glück. | |
Warum? | |
Nun, ein Leuchtturm des Wohlstands war Bulgarien nie. Aber dass sich das | |
seit 1990 nicht geändert hat, ist auch die Folge des Entwicklungsmodells, | |
das wir nach dem Mauerfall verfolgt haben: Der Westen hat den Osten | |
gekauft. Zwar hat die versprochene Rückkehr nach Europa stattgefunden, aber | |
die Plätze, die die östlichen Mitgliedsländer dort eingenommen haben, | |
befinden sich am Rand. | |
Attraktiv ist der Osten für Investoren wegen niedriger Löhne und niedriger | |
Steuern. Die Konzernzentralen sind alle im Westen geblieben. Auf diese | |
Weise wird Bulgarien nie ein zweites Dänemark werden. Selbst die | |
erfolgreichsten Länder wie Polen stoßen an eine gläserne Decke. | |
Wahrscheinlich muss man sich damit abfinden. Aber man muss die richtigen | |
Schlussfolgerungen daraus ziehen. | |
Die wären? | |
Die EU vergleicht sich gern mit den Großmächten USA und China. Auch die | |
haben ein Zentrum und eine Peripherie. Aber der Transfer, der dort zwischen | |
den unterschiedlichen Regionen geleistet wird, ist erheblich höher als der | |
in der [3][EU]. In den USA werden 60 Prozent des Bundeshaushalts für | |
Sozialausgaben aufgewendet, die auf das ganze Land verteilt werden. | |
In der EU gilt zwar die völlige Freizügigkeit von Personen, Waren und | |
Dienstleistungen. Aber mit den Nachteilen muss jedes Land allein fertig | |
werden. Wir haben eine enorme Ost-West-Wanderung. Wer aus dem Osten | |
weggeht, ist meist jung und leistungsfähig, zahlt aber den | |
Daheimgebliebenen nicht die Rente. Das ist nicht fair. Wir holen ganze | |
Medizinergenerationen aus Rumänien ins Zentrum Europas. Aber was das mit | |
dem Gesundheitssystem in Rumänien macht, interessiert uns einen Dreck. | |
Die Nummer als beleidigte Leberwust hat der Osten ziemlich gut drauf. Wieso | |
kommt der so lange so gut damit durch? | |
In jedem nationalen Mythos einer osteuropäischen Nation von Russland bis | |
Slowenien findet sich das Narrativ vom Westen als einer Art Festung. Die in | |
der Festung sind in Sicherheit. Wir im Osten dagegen bleiben außerhalb der | |
Mauern und sind allen Stürmen schutzlos ausgeliefert: Mongolen, Sarazenen, | |
Kommunismus, Flüchtlinge – egal. Schlimmer noch: Die drinnen in der Festung | |
sehen uns gar nicht. Wir kämpfen im toten Winkel. | |
Dabei sind wir es, die die westlichen Werte wirklich ernst nehmen. In der | |
aktuellen Fassung klingt das so: Wir kämpfen gegen den Vormarsch des Islam, | |
und ihr lasst die ganzen Türken ins Land. Wir kämpfen für christliche | |
Sittlichkeit, und [4][euer Präsident treibt es mit seiner Praktikantin]. | |
Wohlgemerkt: Das sind Mythen, nicht feste Überzeugungen. Mal haben sie | |
Konjunktur, mal nicht. | |
Der Osten hat aber auch ein bisschen recht. Wie Sie in Ihrem neuen Buch | |
„Europas geteilter Himmel“ beschreiben, wird der Osten vom Westen nicht nur | |
wie B-Ware behandelt, sondern kriegt auch B-Ware geliefert: Im Waschmittel | |
ist weniger Inhalt und in der Schokolade weniger Kakao. Nur die Verpackung | |
ist gleich. | |
Manchmal zumindest. Das Bild würde auch nicht gut funktionieren, wenn alles | |
nur Einbildung wäre. | |
So wie die Nation. | |
Ja. Nationen sind vorgestellte Gemeinschaften. Aber in Ost und West stellt | |
man sich unter der nationalen Gemeinschaft jeweils etwas anderes vor. | |
Westlich von Deutschland wird die Nation als riesige Nachbarschaft | |
imaginiert, östlich von Deutschland als weitläufige Verwandtschaft. Das hat | |
historische Gründe: In den östlichen Vielvölkerreichen gehörte man als | |
Nation zwar irgendwie zusammen – über Sprache, Gebräuche, Abstammung. | |
Aber man lebte so weit voneinander entfernt, dass man keine gemeinsamen | |
Angelegenheiten miteinander zu regeln hatte. Mit den direkten Nachbarn | |
schon. Als Ruthene hatte man eher keine Ruthenen als Nachbarn, sondern | |
Polen, Rumänen, Deutsche oder Russen. Wenn ich mir die Nation als | |
Verwandtschaft vorstelle, heißt das: Die Mitglieder können über das ganze | |
Reich, sogar über die ganze Welt verteilt sein, können schon tot oder noch | |
gar nicht geboren sein. Eine so verstandene Nation kann an nichts schuld | |
sein, denn sie ist ja nie Akteur. | |
Liegt darin ein Anknüpfungspunkt für Rechtspopulisten? | |
Sicher. In einer Familie braucht man keine vereinbarten, geschriebenen | |
Regeln. Da kennt man sich. Die Eltern sagen, wo es langgeht, und alles | |
bleibt unter uns. Zu einem großen Problem wird das, wenn die als Familie | |
verstandene Nation den Staat kapert. Dann kann man die Verfassung | |
vergessen, und der Korruption ist Tür und Tor geöffnet. Das wird in | |
Westeuropa leider oft nicht verstanden. | |
Ein aktuelles Missverständnis ist zum Beispiel der Glaube vieler westlicher | |
Politiker, man könne die Probleme zwischen Serbien und Kosovo lösen, indem | |
man serbisch und albanisch besiedelte Gebiete tauscht. In Wirklichkeit | |
macht es das schlimmer, denn wenn Staat und nationale Familie | |
deckungsgleich sind, machen die Anführer, was sie wollen. Die | |
multinationalen Staaten in Osteuropa sind eine Erinnerung daran, dass Staat | |
und Familie nicht identisch sein dürfen. Allerdings hat im Westen der | |
Rechtspopulismus ebenso viele Anknüpfungspunkte. Nur eben andere. | |
Heute soll möglichst jeder die Identität des anderen an der Nasenspitze | |
erkennen und ihm darin nicht zu nahe kommen, da die Möglichkeit besteht, | |
den anderen in seiner Identität zu verletzen. Hat der Westen sich die | |
Erfolgsnummer mit der beleidigten Leberwurst abgeguckt? | |
Nachbar kann man werden, verwandt dagegen ist man oder ist man eben nicht. | |
Insofern sind westliche Nationen offener für neue Mitglieder als östliche. | |
Aber die Neuzugänge unterliegen im Westen einem viel größeren | |
Assimilationsdruck. Im Osten hat traditionell jede Gruppe ihre eigene | |
Identität und darf sie behalten. Heute gilt das als geradezu | |
fortschrittlich. Das war aber nicht immer so. | |
Als Maria Theresia vor 250 Jahren in ihrem großen Kaiserreich den | |
Schulunterricht einführte, bestand sie darauf, dass der in der je eigenen | |
Muttersprache abgehalten werden sollte. Der Hintergedanke war, dass die | |
Untertanen außerhalb ihres Bauernkaffs mit ihrem Ruthenisch nichts anfangen | |
konnten. Schon gar nicht, sich mit anderen zusammentun, nach Wien gehen und | |
„Nieder mit der Kaiserin“ rufen. In Frankreich hingegen galt zu der Zeit | |
der umgekehrte Gedanke: Der mündige Bürger macht die Republik aus, und um | |
sich austauschen zu können, müssen alle eine gemeinsame Sprache sprechen. | |
Identitätspolitik hatte auch damals schon zwei Seiten. | |
Eine Masche des Ostens ist es, die EU scharf zu kritisieren, aber keine | |
Alternative vorzuschlagen. Kann die EU so auf Dauer überleben? | |
Nein. Die EU wird gerade im Osten oft mit gescheiterten, weil | |
fehlkonzipierten Vielvölkerstaaten verglichen. Das ist nicht so blöd, wie | |
es klingt. In Jugoslawien etwa dachten die Serben als die größte Nation: | |
Alle anderen Völker dürfen ihre nationalen Egoismen pflegen, nur wir müssen | |
immer an das große Ganze denken. Irgendwann trumpften sie dann auf, und | |
dann war es mit dem Staat bald vorbei. In der EU sind es die Deutschen, die | |
sich einbilden, dass sie den ganzen Laden tragen. Das geht nicht lange gut. | |
Wenn nicht alle gemeinsam das große Ganze tragen, wenn wir keine wirklich | |
gemeinsame Willensbildung schaffen, fliegt uns der Laden irgendwann um die | |
Ohren. | |
Eine schöne Beobachtung in Ihrem Buch ist, dass der Unterschied zwischen | |
Ost und West kleiner ist als zwischen Nord und Süd. | |
Ja. Wer von Osten nach Westen wandert, muss sich weit weniger umstellen und | |
wird besser verstanden als jemand, der von Süden nach Norden unterwegs ist. | |
Zumindest, wenn man die Alltagssitten betrachtet: Essen, Trinken, | |
Gesprächsverhalten, Begegnungskultur. Ob in Italien oder Bulgarien: Im | |
Süden wird nicht gefrühstückt, im Norden gibt man sich gern die Kante. | |
14 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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