| # taz.de -- Der große Bruder Russland: Der Osten in mir | |
| > Unsere Autorin zieht es gen Osten, nach Russland, auch wegen der | |
| > gemeinsamen Geschichte und der ewigen Konstante, dem Bruch. | |
| Vor Monaten fragte mich eine Kollegin, warum ich mit meinen amerikanischen | |
| Studenten nach Sankt Petersburg reise. Weil es eine schöne Stadt sei, weil | |
| es interessant sei, schließlich war Russland lange ein Alter Ego der USA. | |
| Sie solle doch selbst einmal hinfahren. Nein, antwortete die Dame, sie | |
| würde nie nach Russland reisen. Aus politischen Gründen? hakte ich nach. | |
| Nein, es sei ihr einfach fremd. Sie stammt aus dem Westen Deutschlands und | |
| ist, wie sich herausstellte, nicht viel weiter östlich als bis in den | |
| Spreewald gekommen. | |
| Die schroffe Antwort traf mich persönlich, schließlich komme ich aus einem | |
| Teil des sowjetischen Restimperiums, dem mickrigen Osten Deutschlands, der | |
| einmal die DDR war. Für mich war Russland, ungewollt und freiwillig, stets | |
| Teil meiner Biografie. Wenn die Menschen in den düsteren Tagen des | |
| Lockdowns über Reisen an Traumstrände oder in hippe Städte sinnieren, zieht | |
| es mich in jene Weltgegend, die für viele Terra incognita ist, eine Art | |
| No-go-Area, aus der blutrünstige Widersacher von James Bond kommen, die | |
| Dissidenten vergiften, wo man Stalin wieder oder immer noch verehrt und | |
| sich von einem neuen Despoten regieren lässt. Kurzum, das Wort „russisch“ | |
| in seiner Ausschließlichkeit ist längst zum neuen Schimpfwort avanciert. | |
| Mit den Russen meiner Generation verbindet mich, in einem Land geboren zu | |
| sein, das es nicht mehr gibt. Wir teilen die Erfahrung des Tempozids, eines | |
| Verschwindens der Zeit, in der wir gelebt haben. Nur dass mein Land größer, | |
| das der Russen kleiner geworden ist. Ob das eine geopolitische Katastrophe | |
| war, wie Putin meinte, wage ich nicht zu beurteilen, einen tragischen | |
| Einschnitt bedeutete es ohne Zweifel. | |
| Ich verteidige die Sowjetunion und ihre politischen Erbschleicher zuweilen | |
| wider besseres Wissen, so wie ich die DDR verteidige, weil ich jenen mit | |
| der Gnade der westlichen Geburt Ausgestatteten meine/unsere Geschichte | |
| nicht überlassen will. Als Enkelin eines Juden finde ich es gut, dass der | |
| Holocaust zum Kern der europäischen Geschichtsschreibung geworden ist, doch | |
| es beschämt mich, dass die Leningrader Blockade und die 24 Millionen | |
| sowjetischer Kriegsopfer, die in Russland die heiligen genannt werden, an | |
| deutschen Schulen kaum Erwähnung finden. In den letzten Jahren verschwindet | |
| Russland aus unserem Blickfeld, die alten Klischees vom politischen | |
| Bösewicht und kulturell Anderen fallen wieder auf fruchtbaren Boden. Wird | |
| das diesem Land gerecht? | |
| 1917/18, 1939, 1945 und 1989 – keine Zeitnarben in der jüngerer Geschichte | |
| Europas und der Welt ohne die Russen. In deren Heimat fängt fast alles mit | |
| Leid an und hört damit auf. „Unsterbliche Opfer“ lautet eines der | |
| bekanntesten Lieder, geschrieben für die Toten der Revolution von 1905. | |
| Die Unsterblichkeit, man könnte mit Judith Butler auch von | |
| „Betrauerbarkeit“ sprechen, ist ein zentrales Element der russischen | |
| Kultur, das von der gegenwärtigen Regierung geschickt genutzt wird. | |
| Als ich in den 80er Jahren im mittelrussischen Woronesh studierte, gab es | |
| keine Familie, die nicht menschliche Tribute an den Sieg über die Deutschen | |
| gezahlt hatte. Damals gab es offiziell nur Siege. Neuerdings ist der | |
| russische Staat Garant einer kollektiven Trauer und bedient sich der | |
| Kirche, deren Einfluss vorrevolutionäre Ausmaße erlangt. Die orthodoxe | |
| Kirche ist auch für jene Opfer zuständig, für deren Tod der Staat die | |
| Verantwortung trug. Die Religion war selbst Opfer des Kommunismus und wird | |
| so zur Verkörperung moralischer Integrität (die sie nicht immer besaß). | |
| Über die Generationen dieser „Unsterblichen“ wird heute eine nationale und | |
| religiöse Ewigkeit hergestellt, die die Gesellschaft einen soll und auch | |
| Besucher nicht kalt lässt. | |
| Meine US-Studenten, mit denen ich Russland bereiste, wussten kaum etwas | |
| über die Leningrader Blockade und standen betroffen auf dem | |
| Piskarjowskoje-Friedhof mit seinen Massengräbern für eine halbe Million | |
| Hungeropfer. Als ich dem Busfahrer unser Ziel nannte, verzichtete er auf | |
| das Ticketgeld; Amerikaner dorthin zu bringen, sei ihm eine Ehre. Der Sieg | |
| im Zweiten Weltkrieg ist die unbestrittene Leistung der Sowjetunion zur | |
| Weltgeschichte und lieferte das Eintrittsticket in den Club der Global | |
| Players, bezahlt mit Millionen Leben. Als die Sowjetunion zusammenbrach, | |
| ließen die kleinen Brüder Russland mit dem zweifelhaften Erbe der | |
| Sowjetunion zurück. Auf der Habenseite stand nicht mehr als dieser Sieg. | |
| Ende der 80er Jahre fiel eine Bekannte aus der Sowjetunion beim Anblick | |
| einer Fleischtheke in Ostberlin in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kam und | |
| ich fragte, was geschehen sei, sagte sie: Ich dachte immer, wir haben den | |
| Krieg gewonnen! Ist es legitim, in die Diskussionen über Nordstream 2 eine | |
| Aufrechnung der Opferzahlen einzubringen? Die kollektive Erinnerung an die | |
| Opfer des Stalinismus gestaltet sich schwieriger, weil die ihnen zugrunde | |
| liegende Ideologie in einer Niederlage endete und die Täter nie zur | |
| Verantwortung gezogen wurden. | |
| Wenn es in der russischen Geschichte eine Konstante gab, dann war es der | |
| Bruch. Vielleicht ist mir Russland deshalb so nah, weil auch in meiner | |
| Familiengeschichte ein Bruch dem nächsten folgte. Das Ende der | |
| Donaumonarchie, das Ende der Masaryk-Tschechoslowakei, der Holocaust, 1945, | |
| 1961, 1989. Ein Jahrhundert lang ist niemand dort gestorben, wo er geboren | |
| wurde, und jeder starb mit einer anderen Staatsbürgerschaft als der der | |
| Geburt. | |
| In Russland kam es mit jedem Riss zu einer Umwertung der Werte, die in ein | |
| ideologisches Vakuum mündete. Jenes nach dem Zerfall der UdSSR ist | |
| vermutlich das schwierigste. Liberalismus, Menschenrechte und Demokratie | |
| konnten in die Leerstelle, die die Sowjetunion hinterließ, nie wirklich | |
| vordringen. Die Härten der ökonomischen Transformation nach siebzig Jahren | |
| Kommunismus waren viel verheerender als in anderen Ostblockstaaten. Während | |
| sich die abtrünnigen Republiken als Opfer hegemonialer | |
| Nationalitätenpolitik stilisierten und EU-Hilfen erhielten, wurde Russland | |
| zu ihrem Prügelknaben. | |
| Schon 1993 schrieb die Russland-Expertin Jutta Scherrer, dass zu einem | |
| Zeitpunkt, als die Entscheidung Russlands, zu Europa zu gehören, immer | |
| drängender wurde, sich der Westen für das auseinanderbrechende Imperium | |
| immer weniger interessierte, als sei von dort nichts mehr zu befürchten. | |
| Die Bürger des neuen Russlands, deren Mehrheit sich stets als Europäer | |
| betrachtet, fühlte sich ausgerechnet in dem Moment vom Westen verraten, als | |
| sie ihm einen riesigen Teil ihrer Einflusssphäre friedlich übergaben. Die | |
| imperiale Identität der Russen, denen nicht nur das Imperium, sondern auch | |
| die damit verbundene Utopie abhandengekommen waren, wurde mangels | |
| Zukunftsvision mit Versatzstücken aus der Geschichte gefüllt. | |
| Haben es die anderen Ostblockstaaten so viel anders gemacht? Putins | |
| Strategie bestand darin, den verletzten Stolz und die Verlusterfahrung | |
| seiner Landsleute und Millionen von Russen, die sich über Nacht jenseits | |
| der neuen Grenzen in den alten Sowjetrepubliken als quasi Staatenlose | |
| wiederfanden, neu zu definieren. Zu Beginn fand ich das gut und richtig. | |
| Anders als Jelzin, der sich einer clownesken idealisierenden Ikonografie | |
| des Zarenreiches bediente, instrumentalisierte Putin die Sowjetunion, | |
| allen voran den Sieg im Weltkrieg. Dazu wurde die seit 1944 bis zum | |
| Zusammenbruch der UdSSR genutzte Nationalhymne (zuvor war es übrigens die | |
| Internationale) mit neuem Text reaktiviert. Der nach der Staatsgründung | |
| 1990 im Juni gefeierte „Tag Russlands“ wurde 2005 um den „Tag der Einheit | |
| des Volkes“ am 4. November ergänzt, nah genug am ehemaligen | |
| Revolutionsfeiertag und mit drei freien Arbeitstagen. | |
| Die Russen gedenken dabei des Sieges über das polnisch-litauische Heer im | |
| Jahre 1612, auf den die Inthronisierung des ersten Romanows auf den | |
| Zarenthron folgte, was symbolträchtig eine Zeit politischer Wirren (Smuta) | |
| beendete. Und weil der Tag gleichzeitig der Gedenktag der Heiligen Mutter | |
| von Kasan, einer der wichtigsten orthodoxen Ikonen, ist, verbindet sich die | |
| neue Staatlichkeit mit der tausendjährigen Geistigkeit eines Landes, das | |
| nun wieder das größte der orthodoxen Christenheit ist. Doch kein Russe | |
| findet zum Glauben zurück, weil es die neue Staatsräson so will. | |
| Zur russischen Idee, eines ideologischen Diskurses, der auf das 19. | |
| Jahrhundert zurückgeht und die kulturelle Sonderrolle Russlands zwischen | |
| Europa und Asien durch die Spezifika der Orthodoxie, der Hypertrophie des | |
| Staates und des selbstaufopfernden Patriotismus erklärt, gehört auch die | |
| Geografie des größten Landes der Erde, das nur anderthalbmal so viel | |
| Einwohner zählt wie Deutschland, aber fast fünfzigmal so groß ist. | |
| ## Unbeherrschbare Weite | |
| Jeder, der schon einmal mit dem Zug durch Russland gereist ist, erfährt die | |
| physische Weite, die im krassen Gegensatz zu den meist beengten | |
| Wohnverhältnissen steht. Jede Reise ist eine beschwerliche, Ankunft | |
| ungewiss. Das erzeugt Ohnmachtsgefühle gegenüber der Unbeherrschbarkeit des | |
| Raumes ebenso wie Freiheitssehnsucht und einen Hang zur Anarchie. Doch | |
| während bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts Dörfer zur | |
| Weite gehörten, bedeutete das Ende der UdSSR auch den Todesstoß für die | |
| dörflichen Strukturen. Das Wort Bauer (krestjanin) leitet sich im | |
| Russischen von Christen (christjanin) ab. Die bäuerliche Gemeinschaft | |
| (Obschtschina), von russischen und heute russisch-nationalen | |
| Intellektuellen idealisiert, galt als Rückgrat der Kultur. | |
| Russland verändert sich immer, und es verändert sich nie, sagte mir einmal | |
| der 2018 verstorbene Schriftsteller Andrei Bitow. Die | |
| Re-Traditionalisierung, die Usurpation der Geschichte, die alte und neue | |
| Autokratie sind keine russischen Sonderwege, vielleicht war Russland hier | |
| nur Vorreiter einer globalen Entwicklung. Was in Russland als Ergebnis | |
| seiner blutigen Geschichte bleibt, ist seine Sprache, jenes von seinem | |
| Nationaldichter Puschkin und anderen Schriftgiganten geprägte Imperium der | |
| Worte. | |
| Die Gedichte, die ich in meinem Literaturunterricht auswendig lernen | |
| musste, ich kann sie noch immer, und erst heute weiß ich den Mut der | |
| Professoren zu schätzen, die damals auch nichtkonforme Dichter in den | |
| Seminarstoff hineinschmuggelten. Als ich einmal fieberkrank im Bett lag, | |
| rezitierte mir ein Mitstudent einfach mal so den ganzen „Eugen Onegin“. Die | |
| Worte haben anders als viele ihrer Schöpfer allen politischen Verwerfungen | |
| der Geschichte widerstanden. | |
| ## Machoposen im Matriarchat | |
| Und noch eins: Viele meinen, Russland werde von Männern in Machoposen | |
| regiert, was eine von Putins PR-Maschinerie kalkulierte Inszenierung als | |
| Antwort auf den viel beklagten Niedergang der russischen Männlichkeit ist. | |
| Gerade deshalb wurde der gutaussehende, telegene Anwalt Nawalny zur Gefahr | |
| für das politische System. Doch Russland, Russia, ist nicht nur | |
| grammatikalisch ein Femininum. Der Alltag des Landes, das habe ich stets | |
| erfahren, ruht auf den Schultern der Frauen. Nicht zuletzt, weil es vor | |
| allem Männer waren, die in den stalinistischen Säuberungen, im Krieg und | |
| auch an den Folgen des Alkoholismus allzu früh starben, hat sich in den | |
| Familien ein Matriarchat herausgebildet. | |
| Die Männer galten als Genies oder loser, im Alltag fast überflüssig. Vom | |
| konservativen geistlichen und politischen Weihrauch werden sich Russlands | |
| Frauen nicht vernebeln lassen. Vor allem junge Aktivist*innen | |
| protestieren gegen die 2017 eingeführte Entkriminalisierung häuslicher | |
| Gewalt, die auch auf Druck der orthodoxen Kleriker zustande kam. Selbst | |
| wenn die Zahl der Abtreibungsgegner in Russland bedenklich gewachsen ist, | |
| wird ein generelles Verbot in dem Land, das als erstes die Abtreibung 1920 | |
| legalisierte, nicht möglich sein. | |
| Bei meiner Reise mit meinen amerikanischen Studenten nach St. Petersburg | |
| war P. wieder unser Guide. Eine promovierte Linguistin mit makellosem | |
| Cambridge-Englisch, die als alleinstehende Mutter ein Haus gebaut, ein Auto | |
| gekauft, ein Unternehmen begründet hat. Eine typische Selfmade-Frau. Ihre | |
| Mutter hatte als Kind die Blockade überlebt. P. ist orthodoxe Christin, die | |
| die Fastenregeln einhält und keine Kirche ohne Kopftuch betritt. Und eine | |
| glühende Patriotin. Nicht in Russland zu leben käme für sie kaum in Frage. | |
| Siebzig Jahre ökonomische Emanzipation, nicht immer freiwillig, haben. wie | |
| vierzig Jahre DDR, Spuren hinterlassen. Frauen wie P. machen das, was zu | |
| tun ist. Ohne Feminismus-Seminare. Der Dichter Fjodor Tjutschew schrieb vor | |
| 150 Jahren, Russland könne man mit dem Verstand nie verstehen, an Russland | |
| muss man glauben. Fürs Erste glaube ich an Frauen wie P. und wäre froh, der | |
| Westen würde sich wieder für das ganze Russland und nicht nur für seine | |
| Alpha-Männchen interessieren. | |
| 28 Feb 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Sabine Berking | |
| ## TAGS | |
| Russland | |
| Reisen | |
| Geschichte | |
| DDR | |
| Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg | |
| Russland | |
| Westen | |
| Buch | |
| Russland | |
| Alexei Nawalny | |
| Russland | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Historiker über den Ukraine-Krieg: „Freiheit ist wichtiger als Frieden“ | |
| Warum gibt es in Ostdeutschland mehr Kritik an der Unterstützung der | |
| Ukraine als im Westen? Eine Ursache sieht Ilko-Sascha Kowalczuk im bis | |
| heute fortlebenden Antiamerikanismus der SED. | |
| Das Ende des zweiten Weltkriegs: Entblößt das Haupt! | |
| Berlins sowjetische Ehrenmale. Eine Besichtigungstour zum „Tag der | |
| Befreiung“, dem 8. Mai zwischen Tiergarten und Pankow. | |
| Unterwegs in der russischen Provinz: Die Magie des Fremden | |
| Die ehrliche, ungeschönte Direktheit, den lakonischen Zynismus gegenüber | |
| dem Leben, die Härte und die Wärme – unsere Autorin liebt Russland. | |
| Interview mit ehemaligem UN-Berater: „Der Westen hat den Osten gekauft“ | |
| Osteuropa fühlt sich als der wahre Verteidiger westlicher Werte, sagt der | |
| Autor Norbert Mappes-Niediek. Dabei bleibe es letztlich doch außen vor. | |
| Sibiriens vergessene Instrumente: Die Reisen der Klaviere | |
| Die Britin Sophy Roberts erzählt am Schicksal der Klaviere von Sibirien und | |
| seinen Menschen. Eine Spurensuche mit kriminalistischem Gespür. | |
| Opposition in Russland: Vom Heldensockel gestoßen | |
| Amnesty International sieht Alexei Nawalny nicht länger als „Prisoner of | |
| Conscience“. Die deutsche Sektion reagiert überrascht. | |
| Proteste in Russland: Herzen gegen die Repression | |
| Am Valentinstag bilden Frauen in Moskau bei minus 20 Grad eine | |
| Menschenkette. Für den Kreml ist das ein „hybrider Krieg“ des Westens. | |
| Repressionen in Russland: Attacke auf soziale Medien | |
| Nach den Protesten vom Sonntag versucht die Regierung, die Mobilisierung im | |
| Netz zu stoppen. Die Opposition plant derweil für Dienstag neue Aktionen. |