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# taz.de -- Sibiriens vergessene Instrumente: Die Reisen der Klaviere
> Die Britin Sophy Roberts erzählt am Schicksal der Klaviere von Sibirien
> und seinen Menschen. Eine Spurensuche mit kriminalistischem Gespür.
Bild: Nach der Eroberung Sibiriens unter Katharina der Großen verbreitete sich…
Wie gelangt ein 1850 im westfälischen Schwelm gebauter Ibach-Konzertflügel
auf die sibirische Halbinsel Kamtschatka, wo er auf einem Dachboden im
Dornröschenschlaf schlummert? Oder vierzig Steinways in eine Schule in
Chanty-Mansijsk, einer entlegenen Ölförderregion nahe dem Polarkreis? Die
Britin Sophy Roberts hat sich auf eine exzentrische, abenteuerliche Reise
begeben, auf der Suche nach den vergessenen Klavieren in einer Region, die
hinter Jekaterinburg im Ural beginnt und, so Tschechow, weiß der Teufel wo
endet.
Das Spiel einer mongolischen Pianistin in einer Jurte nahe der russischen
Grenze brachte Roberts auf die Idee. Sie wollte der begabten Musikerin ein
besseres Klavier besorgen. Dann erlag sie der Pianomanie, wie viele Russen
seit 1842, als Franz Liszt in der Metropole des Landes auftrat.
Entlang des Schicksals der Instrumente erzählt Roberts die Ethnografie
einer Region und deren Bewohner. Die Reise führt sie bis auf die
Kommandeurinseln im Pazifik und nach Sachalin, nach Akademgorodok nahe
Nowosibirsk und auf die Jamal-Halbinsel, wo indigene Rentiernomaden leben.
Die Klaviere reduzieren für sie die unermessliche Größe des Landes auf ein
menschliches Maß, und je nach Zustand nehmen sie dabei auch menschliche
Züge an, sind vom extremen Klima gezeichnet und von der Geschichte in
Hinterzimmer verfrachtet. Mit kriminalistischem Gespür kann sie anhand der
Seriennummern die Herkunft dieser seltenen Exemplare identifizieren.
Nach der Eroberung Sibiriens unter Katharina der Großen waren es höhere
Beamte und Abenteurer, die aus dem weit entfernten Petersburg die
Klaviermusik mitbrachten. Im 19. Jahrhundert transportierte die Ehefrau des
verbannten Revolutionärs Fürst Wolkonski ein Klavichord 6.500 Kilometer
über Monate auf Schlitten aus der Hauptstadt bis in die Taiga, um ihrem
Mann in die Verbannung zu folgen. Später sollten ausgerechnet Verbannte,
viele von ihnen Polen, die Kinder der sibirischen Oberschicht auf dem
Instrument unterrichten. Nach dem Import aus Europa waren es vor allem
deutsche Klavierbauer, die in Petersburg, Moskau und bald auch in Sibirien
ihre ersten Dependancen errichteten, bis die Russen eigene Manufakturen
gründeten.
Die Revolution von 1917 machte dann so manchem Flügel den Garaus oder
schickte ihn samt seiner Besitzer ins Exil, nicht selten auf dem Dach der
Transsibirischen Eisenbahn. So ließ sich auch das Instrument der letzten
Zarin, das sie bis zu ihrer Erschießung durch die Bolschewiki in
Jekaterinburg mit sich führte, nicht mehr ausfindig machen.
Schon bald begann die Sowjetunion mit der Förderung eigener Talente und
entsandte dazu beispielsweise Mitglieder der Moskauer Philharmonie ins
entlegene Kamtschatka, um der dortigen Bevölkerung die Musik näher zu
bringen. In den unmenschlichen stalinistischen Gulags spielten wie in den
deutschen Konzentrationslagern Häftlinge zur Unterhaltung der
Lagerkommandanten, so der berühmte Tenor Wadim Kosin. Er selbst wurde unter
Stalin zweimal verhaftet und zur Zwangsarbeit in die berüchtigte
Kolyma-Region am Ochotskischen Meer verbracht. Nach seiner Freilassung
blieb er in Magadan und komponierte an einem Klavier der Marke Roter
Oktober melancholische Lieder über die dortige Landschaft.
Das größte Opernhaus Russlands und damit eines der größten der Welt steht
nicht in Moskau oder Petersburg, sondern in Nowosibirsk, wo 1944 die
Leningrader Symphonie von evakuierten Musikern auf deren Instrumenten
gespielt wurde. Auch das Klavichord Katharinas der Großen wurde hierhin
gerettet, bis es nach dem Krieg in die einstige Residenz bei Petersburg
zurückkehrte.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es zum zweiten Mal zum
Niedergang der Klaviermusik in Sibirien. Entvölkerung setzte in den
entlegenen Gegenden ein, wo die Förderung der Ressourcen nicht mehr
profitabel war. Inzwischen sind es wohlhabende Privatleute, die sich wie
einst die Aristokraten teure Klaviere in die Häuser stellen und als
Wohltäter Instrumente spenden, die meist aus asiatischer Produktion
stammen.
Auf der Suche nach einem Instrument, das die schamanistischen Traditionen
der indigenen Nenzen im hohen Norden Sibiriens in sich trug, stößt Roberts
schließlich auf den inzwischen gebrechlichen Virtuosen Semjon, den ersten
seines Volkes, der am Leningrader Konservatorium ausgebildet wurde. Auf die
Bitte, auf seinem Tjumen-Klavier zu spielen, stimmt er mit seiner Familie
eine eigene Komposition an, ein Lied über die Nenzen.
28 Feb 2021
## AUTOREN
Sabine Berking
## TAGS
Buch
Sibirien
Musik
Russland
Russland
Wladimir Putin
Schwerpunkt Klimawandel
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