| # taz.de -- Historiker über den Ukraine-Krieg: „Freiheit ist wichtiger als F… | |
| > Warum gibt es in Ostdeutschland mehr Kritik an der Unterstützung der | |
| > Ukraine als im Westen? Eine Ursache sieht Ilko-Sascha Kowalczuk im bis | |
| > heute fortlebenden Antiamerikanismus der SED. | |
| Bild: „Nicht unser Krieg?“ steht an einer Fassade in Berlin. Das Fragezeich… | |
| wochentaz: [1][Herr Kowalczuk], auf einen Bauzaun am Tiergarten in Berlin | |
| hat jemand „Das ist nicht unser Krieg“ gesprayt. Gemeint ist der russische | |
| Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dann hat jemand anderes aus dem „nicht“ | |
| ein „auch“ gemacht. Würden Menschen in Ostdeutschland die ursprüngliche | |
| Version des Satzes eher unterstützen als Menschen im Westen der Republik? | |
| [2][Ilko-Sascha Kowalczuk]: Ich bin mir unsicher, ob die Aussage „Das ist | |
| nicht unser Krieg“ nur im Osten mehrheitsfähig wäre. Aber es stimmt: Bei | |
| der Unterstützung der Ukraine gibt es größere Differenzen zwischen Ost und | |
| West. In den letzten 30 Jahren haben sich viele Menschen, die aus der | |
| Unfreiheit der DDR kamen, an die Freiheit gewöhnt, sie betrachten die | |
| Probleme anderer nicht mehr als ihre eigenen. Aber für mich ist dieser | |
| Krieg des russischen Regimes gegen die freie, unabhängige Ukraine auch ein | |
| Krieg, bei dem es um meine Freiheit geht. Für mich ist das auch mein Krieg. | |
| Ihre Haltung zum Krieg teilen viele Menschen in osteuropäischen Ländern, | |
| insbesondere im Baltikum und in Polen. Nur in Ostdeutschland findet sie | |
| sich selten, trotz eines ähnlichen Erfahrungsraums. Warum? | |
| In Deutschland wird behauptet, dass die Revolution von 1989 von einer | |
| Mehrheit getragen wurde. In Wahrheit waren es große Minderheiten, die sich | |
| engagiert haben. Im Gegensatz dazu war der Kampf um Unabhängigkeit und | |
| Freiheit in Polen und den baltischen Staaten ein Kampf von Mehrheiten. Die | |
| doppelte Besatzung dieser Länder spielt hierbei eine Rolle. Nach | |
| Deutschland dagegen kam die sowjetische Armee, um Hitler zu besiegen – | |
| nicht, um Deutschland zu erobern. In der DDR gab es deshalb mit einer | |
| gewissen Berechtigung eine Befreiungserzählung. Davon zeugen heute noch | |
| viele sowjetische Denkmäler. Das sind alles Friedhöfe der Soldaten. | |
| Wie unterscheiden sich die Erfahrungen in Osteuropa und Ostdeutschland nach | |
| 1990? | |
| Nirgendwo war der Bruch zwischen dem Alten und dem Neuen so radikal wie in | |
| Ostdeutschland. Gleichzeitig ist nirgendwo die Gesellschaft sozial so weich | |
| abgefedert worden. Das war, politisch gesehen, gut. Der Effekt ist aber, | |
| dass sich die Freiheit wie ein Geschenk anfühlt. Geschenke werden oft nicht | |
| wertgeschätzt. Der Westen dachte nach 1990 fälschlicherweise, dass sein | |
| System selbsterklärend sei, und kümmerte sich nicht darum, Millionen | |
| Erwachsenen im Osten das neue System zu erklären. Heute sehen wir die | |
| Auswirkungen davon, da ähnliche Begriffe im Osten und Westen | |
| unterschiedliche Inhalte haben. | |
| Zum Beispiel? | |
| Pressefreiheit. Die stand auch in der Verfassung der DDR, Artikel 27. | |
| Spielt die besondere Verbindung zu Russland eine Rolle für die Haltung in | |
| Ostdeutschland? | |
| Das glaube ich nicht. Bis Ende der 80er Jahre war Russenhass in der DDR | |
| weit verbreitet und das Lernen der russischen Sprache für die meisten eine | |
| Qual. Was wir jetzt erleben, ist der Antiamerikanismus der SED, der | |
| fortlebt und sich als Ablehnung des politischen Systems des Westens zeigt. | |
| Das ist viel dramatischer, als wenn die Leute sich „nur“ mit Putin und | |
| seiner Diktatur gemeinmachen würden. Diese Ablehnung der Werte des Westens | |
| – wie soll man das auffangen? | |
| Eine antiwestliche Haltung gibt es auch unter westdeutschen Linken, | |
| sichtbar in der Schwarzer-Wagenknecht-Verbindung. Sollten wir also gar | |
| nicht so sehr über eine spezifisch ostdeutsche Erfahrung sprechen? | |
| Alle Befragungen zeigen, dass es eine signifikant stärkere Präferenz für | |
| die Haltung der Schwarzer-Wagenknecht-Fraktion im Osten gibt. Aber generell | |
| ist es so, dass in jedem politischen System etwa 15 bis 20 Prozent der | |
| Gesellschaft nicht erreichbar sind – egal, ob das eine Monarchie ist, eine | |
| Diktatur oder eine freiheitliche Demokratie. Aber die Repräsentation von | |
| Minderheiten und Mehrheiten hat sich massiv verändert. Diejenigen, die | |
| früher nur im Dorfkrug saßen, vernetzen sich mittlerweile global und werden | |
| so eine politisch relevante Kraft. Wir haben noch keinen Weg gefunden, um | |
| damit umzugehen. | |
| Die Menschen, die sich Frieden wünschen, sind aber nicht alle antiwestlich. | |
| Sie wünschen sich Frieden. Ist das nicht legitim? | |
| Ja, das ist legitim. Aber reden wir alle über dasselbe, wenn wir über | |
| Frieden reden? Die Schwarzer-Wagenknecht-Fraktion glaubt, dass Frieden | |
| eintritt, wenn die Waffen schweigen. Aber ein ungerechter Frieden führt zu | |
| neuen Krisen. Das ist gerade in der Ukraine mit der Vorgeschichte seit 2014 | |
| offenkundig. Einige lehnen Waffenlieferungen ab aus Angst, dass der Krieg | |
| sich ausweitet und sie selbst betrifft. Dieses Aussprechen von Ängsten | |
| finde ich löblich. Doch die Mehrheit sagt „Ja, aber“ und beschuldigt die | |
| USA. Das hat wenig mit dem konkreten Krieg zu tun. Für mich ist Frieden | |
| ohne Freiheit und Unabhängigkeit kein Frieden. In der DDR gab es auch | |
| keinen Frieden, sondern beständigen Krieg gegen die Gesellschaft – | |
| manifestiert etwa durch die Mauer. | |
| Auf einer der Friedensdemonstrationen sagte eine Person, dass es letztlich | |
| besser sei, in einer Diktatur zu leben, statt für eine Demokratie zu | |
| sterben. | |
| Nur jemand, der nicht in einer Diktatur gelebt hat, kann einen solchen Satz | |
| formulieren. Die DDR war das größte Freiluftgefängnis in Europa nach 1945. | |
| Viele Menschen haben die Diktatur jedoch nicht als Unfreiheit wahrgenommen, | |
| ähnlich wie aktuell in Russland oder China. Menschen wiederum, die in | |
| Demokratie und Freiheit leben, können sich nicht vorstellen, dass es etwas | |
| Wichtigeres gibt als Frieden. Aber Freiheit ist wichtiger als Frieden. | |
| Wie definieren Sie Freiheit? | |
| Freiheit ist dem Philosophen John Locke zufolge die Abwesenheit von | |
| staatlicher Willkür. Der Schriftsteller Jürgen Fuchs wiederum folgert, | |
| Freiheit bedeute, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Da | |
| kommen wir zu dem Toleranzparadoxon eines dritten Denkers, Karl R. Popper: | |
| Jede Freiheit hat Grenzen, genau dann, wenn Menschen versuchen, die | |
| Freiheit anderer zu begrenzen – den Intoleranten müssen Grenzen gesetzt | |
| werden. Mit der AfD in den Parlamenten müssen wir uns unentwegt mit dieser | |
| Frage auseinandersetzen. Wir wissen alle, dass diese Menschen die Freiheit | |
| und die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland überwinden wollen. | |
| Dabei sind diejenigen, die antifreiheitlich agieren, immer im Vorteil, weil | |
| sie skrupelloser sein können. | |
| Eine Regierungskommission, der Sie angehörten, hat im Jahr 2020 ein | |
| „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und europäische Transformation“ | |
| vorgeschlagen. Es soll in Halle entstehen. Welche Rolle spielt das Zentrum | |
| bei der Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Perspektive auf Demokratie? | |
| Dieses Zentrum soll nicht die ach so geschundene ostdeutsche Seele | |
| streicheln, sondern möglichst breit diskutieren, in was für einer | |
| Gesellschaft wir leben wollen. Dafür müssen wir schauen, welche | |
| historischen Rucksäcke wir mitnehmen auf diesen Weg in die Zukunft. Wir | |
| müssen schauen: Warum gab es eine Revolution gegen die kommunistische | |
| Diktatur? Dafür müssen wir früher als 1985 anfangen, also vor Gorbatschow. | |
| Und dann müssen wir Ostdeutschland stärker in den osteuropäischen | |
| Zusammenhängen sehen. Diese Verflechtung muss das Zentrum betonen. | |
| Sie sagen, dass Ostdeutsche sich mit Osteuropa vergleichen sollten, um zu | |
| sehen, was erreicht wurde. Aber Menschen vergleichen sich meist mit denen, | |
| die mehr haben als sie. | |
| Sie haben recht. Wahrscheinlich ist das Kind mit der Kohl’schen Politik in | |
| den Brunnen gefallen. Helmut Kohl hat gesagt: Euch wird es nicht | |
| schlechter gehen als uns. Diesen Vergleichsmaßstab hat die bundesdeutsche | |
| Politik selbst gesetzt. Hätten sie eine andere Chance gehabt? | |
| Höchstwahrscheinlich nicht. Alle schauten nach Westen, die Leute in | |
| Frankfurt am Main schauten nach Westen, und die Leute in Frankfurt an der | |
| Oder schauten nach Westen. Es wäre vernünftiger und weniger frustrierend | |
| gewesen, Ostdeutschland mit Osteuropa zu vergleichen, um realistische | |
| Maßstäbe zu haben. Sie kennen bestimmt diese Vorher-nachher-Bilder. Die | |
| Stralsunder Altstadt 1985 und heute. Oder wie gut Halberstadt jetzt | |
| aussieht! Das beeindruckt jeden. | |
| Ein taz-Leser hat vorgeschlagen, Bürgerräte in Ostdeutschland einzuführen, | |
| die darüber diskutieren könnten, wie die Zukunft aussehen soll. | |
| Das finde ich gut, ich würde allerdings sagen: in ganz Deutschland, in ganz | |
| Europa! Eine andere Idee wäre, ein Versäumnis des Einheitsprozesses | |
| nachzuholen: Artikel 146 des Grundgesetzes mit Leben zu füllen. Darin heißt | |
| es, dass es dieses Grundgesetz so lange geben wird, bis sich das deutsche | |
| Volk in freier Selbstbestimmung eine eigene Verfassung gegeben hat. Es | |
| würde sich lohnen, einen verfassungsgebenden Prozess zu initiieren, wo es | |
| um die Frage geht, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. | |
| Eine alte Forderung der Bürgerrechtsbewegung. Was versprechen Sie sich | |
| davon? | |
| Wir sind als Demokraten und freiheitsliebende Menschen oft in der | |
| Defensive, weil wir gar nicht mehr wissen, ob wir wirklich noch in der | |
| Mehrheit sind. So ein diskursiver Prozess würde uns alle stärken, weil wir | |
| – glaube ich – feststellen würden: Jawohl, wir haben immer noch eine | |
| veritable Mehrheit, und wir können uns darauf verständigen, in was für | |
| einer Gesellschaft wir leben wollen. Und dann können wir diesen ganzen | |
| anderen Arschlöchern endlich mal den Stinkefinger zeigen. | |
| 7 May 2023 | |
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| Katrin Gottschalk | |
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