| # taz.de -- Putin-Fans in Ostdeutschland: Paradoxe Sympathien | |
| > Unserem Autor begegnet eine hartnäckige Parteinahme für die Erben der | |
| > Sowjetunion, ausgerechnet in der ehemaligen Besatzungszone. Wie kommt | |
| > das? | |
| Bild: „Nas ne dogonjat“ („Sie kriegen uns nicht“) steht auf dem Shirt b… | |
| „Ich liebe ihn heute noch!“, sagt meine Friseurin – und ich liebe sie für | |
| diese Liebeserklärung an [1][Wladimir Putin] am zehnten Kriegstag nicht. | |
| Ich liebe sie noch weniger für die Ansage, dass sie den Medien ohnehin nie | |
| traue und jetzt erst recht nicht. | |
| Meine Friseurin liebe ich sonst sehr, sie stammt noch aus dem Laden, der | |
| früher in der SED-Bezirksleitung, später sächsischer Landtag, die Bonzen | |
| beschnitt. Normalerweise reden wir zwei entspannt über meinen Beruf. | |
| Sie ist [2][nicht die einzige Putinversteherin] in Dresden und im Osten des | |
| mir plötzlich seltsam näher gerückten Deutschlands. Überhaupt nicht | |
| entspannt geht es seit dem Überfall auf die Ukraine in Mailverteilern, | |
| Whatsapp-Gruppen oder bei persönlichen Begegnungen zu. Der Tenor: Ist ja | |
| schlimm, was der unberechenbare Putin da macht. | |
| Aber hat nicht der Westen, voran die US-Amerikaner, das arme, | |
| kuschelbedürftige und gen Westen lächelnde Russland seit 30 Jahren so in | |
| die Enge getrieben, dass sein Zar jetzt gar nicht anders konnte? Die | |
| Notwehrthese der früheren ARD-Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz | |
| nach der Krim-Annexion 2014 steht Pate. | |
| ## Ein neuer Spaltpilz auf Skatrunden | |
| Bitte [3][nicht schon wieder eine neue Gletscherspalte] im vereisten | |
| gesellschaftlichen Klima, barme ich. Haben wir besonders im Osten nicht | |
| genug mit einer zerklüfteten Landschaft zu kämpfen nach Pegida, | |
| Flüchtlingshassern, querdenkenden Totalverweigerern und Impfkriegern? | |
| Wieder dringt ein neuer Spaltpilz in Geburtstagsfeiern oder Skatrunden vor, | |
| auch in akademische. | |
| Woher rührt ausgerechnet in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone die | |
| hartnäckige Parteinahme für die Erben der Sowjetunion, eine latente | |
| Sympathie, die sich auch durch die Gräuel eines totalen Krieges nicht | |
| beirren lässt? Wir müssten die Sowjets doch am besten kennen! Bei | |
| Erklärungsversuchen fühle ich mich von Empirie, Sozial- oder | |
| Politikwissenschaften weitgehend allein gelassen und auf eigene Erfahrungen | |
| und Beobachtungen verwiesen. | |
| Zuerst kommt mir eine Variante des Stockholm-Syndroms in den Sinn. Also | |
| paradoxe Sympathie gegenüber denen, die einem Gewalt antun. Das klappt für | |
| meine Generation nur noch bedingt, die Schulkinder der 1960er und 70er | |
| Jahre in der DDR, die bloß noch Ausläufer des harten Stalinismus und des | |
| 17. Juni 1953 erfuhren. Mit dem Atavismus der blutigen Niederschlagung des | |
| Prager Frühlings 1968 freilich. | |
| Aber sonst spürten wir die Knute der einheimischen Kremlstatthalter, | |
| weniger die der Führer des Sowjetreiches. Wobei das immer in Zusammenhang | |
| mit der historischen Schuld des deutschen Überfalls 1941 gefühlt und | |
| relativiert wurde. | |
| Und: Wer kannte schon einen Russen persönlich? Berufliche Reisen in die | |
| Sowjetunion gab es, Ausgewählte durften dort studieren, aber touristisch | |
| war nicht viel los. Die Soldaten, die armen Schweine, wurden abgeschirmt. | |
| „Es ist ein Russ entsprungen“, sangen wir unverzeihlich zynisch auf dem | |
| Zeltplatz, wenn wieder eine bewaffnete Postenkette nach einem verzweifelten | |
| Deserteur suchte – bis wir die Schüsse im Wald krachen hörten. | |
| ## Ost-Trotz oder trotz Ost? | |
| Der koloniale Status wurde in der DDR mit Ironie sublimiert. Sowjetische | |
| Freunde oder Brüder? Freunde nicht, denn die kann man sich aussuchen. Aus | |
| einem sowjetischen Arbeiterlied wurde „Machorka her“, aus „Tom Dooley“ … | |
| Grigorij-Parodie, aus den Ghost Ridern die „30 Russen am Fuße des Ural“. | |
| Das war nicht mehr feindselig, und auch ich trug 1989 eine | |
| Gorbatschow-Plakette. | |
| Zweite, nicht wissenschaftlich belegbare These: Der Osttrotz ist im Spiel! | |
| Bei der jungen Nachwendegeneration trifft man nämlich keine Putinversteher | |
| mehr, nur noch Kriegsgegner. Naiv stolperten die Ossis in die Einheit, im | |
| Glauben an den schnellen Wohlstand und an eine individuell narzisstische, | |
| nicht verantwortlich empfundene Freiheit. Dieser Glaube musste enttäuscht | |
| werden. Reaktion gegenüber den Wessiokkupanten: Ätsch, dafür halten wir | |
| weiter zu den Russen! | |
| Das nüchterne Argument fortgesetzter Wirtschaftsbeziehungen zieht kaum. Nur | |
| drei Prozent der sächsischen Wirtschaft sollen davon profitieren. | |
| Maßgeblich erscheint mir vielmehr die massenhaft gestützte Beobachtung, | |
| dass die „Ossis“ 89 zwar demonstrierten, aber von einer | |
| solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie nichts begriffen hatten. | |
| ## Hofierung von Putin in Dresden | |
| Bei den Rechten, die am lautesten nach Basisdemokratie schreien, wie bei | |
| einer erschreckend hohen Zahl ehemaliger DDR-Bürger ist die Sehnsucht nach | |
| autoritärer Führung, mithin nach Entlastung von der eigenen | |
| Mitverantwortung latent. | |
| Bei Pegida und deren Derivaten, bei der AfD wird Putin geradezu als Messias | |
| verklärt. Als MDR-Reporter hätte man sich dort mit einem Mikrofon von | |
| Russia Today tarnen müssen. In der Oberlausitz fordern Inschriften und | |
| Banderolen „Schluss mit der Hetze gegen Russland!“. | |
| Es ist dieselbe Region, in der die gegen alles irgendwie Staatliche | |
| demonstrierenden Gutbürger sonntags an der B96 schwarzweißrote Fahnen | |
| schwenken und die Sozialpolitik des Kaisers loben. Im | |
| Kollektiv-Unterbewussten wirkt die autoritäre Prägung der DDR fort, bis | |
| hinein in äußerlich demokratische Regierungskreise von Meck-Pomm oder | |
| Sachsen. | |
| In Dresden sind die frühere Hofierung des Zaren und die Besuchseinladung an | |
| Putin bis heute nicht zurückgenommen worden. Wir befinden uns im | |
| adoleszenten Stadium Ostdeutschlands auf dem Weg zu demokratischer | |
| Emanzipation, die freilich auch im Westen keineswegs gefestigt erscheint. | |
| Ich werde Geduld und Nerven in teils unsäglichen Debatten bewahren, beim | |
| Krieg an der Heimatfront nicht mitmachen und meiner Friseurin weiterhin | |
| dankbar sein für die Übermittlung von Volkes Stimme. | |
| 10 Mar 2022 | |
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| Michael Bartsch | |
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