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# taz.de -- Neuauflage „Falsche Propheten“: Die Verführenden
> Leo Löwenthal hat 1949 Populismus und Demagogie analysiert. Die
> Mechanismen, die er mit der Psychoanalyse beschrieb, greifen heute
> wieder.
Bild: Leo Löwenthal, Mitbegründer der Kritischen Theorie
Krisen sind Gold wert für Demagogen. Ob Rechtsextremisten oder
Verschwörungtheoretiker, Querdenker, QAnon-Spinner, AfDler oder Trump: Für
sie alle ist der Zustand der Instabilität ein fruchtbarer Boden für ihre
Agenda.
„Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD. Das ist
natürlich scheiße, auch für unsere Kinder. (…) Aber wahrscheinlich erhält
uns das“, hat Christian Lüth, der damalige Pressesprecher
AfD-Bundestagsfraktion (neben anderen, richtig abscheulichen Aussagen) in
einem geheim mitgeschnittenen Gespräch im Februar 2020 gesagt – und er
liegt richtig damit.
Die politische Ausbeutung der Unzufriedenheit hat der große [1][Soziologe
Leo Löwenthal] schon 1949 in seinem Buch „Falsche Propheten. Studien zur
faschistischen Agitation“ analysiert.
Die „Malaise“, wie Löwenthal den Krisenzustand nennt, sei „ein Spiegel
jener strukturellen Belastungen, denen der einzelne in einer Periode
tiefgehender Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialstruktur
ausgesetzt ist. (…) Auf der Ebene unmittelbarer Wahrnehmung scheint diese
Malaise ihren Ursprung in den tiefsten Schichten des Individuums selbst zu
haben und wird von ihm als eine scheinbar isolierte individuelle und rein
seelische Krise erlebt. (…) Der Agitator watet in dieser Malaise, er
genießt sie (…).“
## Sozialpsychologische Dimension des Populismus
Der Suhrkamp Verlag hat Löwenthals Abhandlung nun wiederveröffentlicht. Das
Buch hilft noch heute, die sozialpsychologische Dimension des Populismus
und des Erfolgs antidemokratische Bewegungen zu begreifen.
Löwenthal (1900–1993) gehörte zu den Mitbegründern der Kritischen Theorie,
er hat am wohl wichtigsten Werk der [2][Frankfurter Schule], „Dialektik der
Aufklärung“ (1944), mitgearbeitet. „Falsche Propheten“ war ein Teil der
berühmten Studien zum Autoritarismus des Instituts für Sozialforschung.
Löwenthal schrieb die Abhandlung im Exil in New York, wohin er aus
Frankfurt/Main über Genf 1934 geflohen war.
Unter dem Eindruck des europäischen Faschismus agitierten in den USA
während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Faschisten und Antisemiten (u. a.
Joseph P. Kamp, Elisabeth Dilling, William Dudley Pelley) gegen Roosevelt
und seinen New Deal. Löwenthal hat die Rhetorik und Narrative der Hetzer
untersucht.
## Agitator, Reformer und Revolutionär
Er unterscheidet dabei grundlegend zwischen dem Agitator, dem Reformer und
dem Revolutionär: Während letztere beide sich politisch auf reale
Missstände bezögen, ginge es ersterem weder darum, Ungerechtigkeiten zu
beseitigen, noch für ihre Klientel politische Verbesserungen zu erreichen.
Nein, in erster Linie zielt der Agitator auf die Gefühlsebene, betreibt die
maximale Emotionalisierung von Politik (wobei es eigentlich keine „Politik“
im Sinne des Wortes ist, es sind überwiegend antipolitische Inhalte). Er
will, dass seine Anhänger sich bloß besser fühlen und ihm deshalb folgen.
Denn, so der Agitator, ihre Wut – auf Migranten, Juden, auf das fremde
Andere – ist berechtigt; er sei der Einzige, der sich traue, diese
unterdrückte Wahrheit auszusprechen.
Es ist erstaunlich, wie sehr die Motive der heutigen Agitatoren jenen von
damals gleichen. Grundlegend ist ein Narrativ des Betrogenwerdens, nach dem
der einfache, ehrliche, hart arbeitende Bürger nicht mehr bekomme, was ihm
doch eigentlich zustünde. Trump hat diese Erzählung in Perfektion
verkörpert, noch als er der mächtigste Mann der Welt war („Stop The
Steal“); eine These wäre, dass die emotionale Intelligenz, über die Trump
verfügt, der Schlüssel zur Macht war.
## Erweckter und Erleuchteter
Die heutigen „Lügenpresse“- und „Umvolkungs“-Narrative gab es ebenfall…
ganz ähnliche Weise bereits damals, die Feindbilder werden nur im Hinblick
auf die jeweils aktuellen Krise modifiziert. Der Agitator gibt sich dagegen
als Erweckter und Erleuchteter, dem es zu folgen gilt.
Bis heute unverändert ist der Jude das verschwörungstheoretische Feindbild
schlechthin. In Löwenthals Beispielen findet eine Täter-Opfer-Umkehr
statt, die „jüdisch-internationale Hochfinanz“ ist schuld an der Malaise,
Juden werden „mysteriöse Kraftquellen“ zugesprochen. Attila Hildmann und
Xavier Naidoo lassen grüßen.
## Othering
Erfolgsentscheidend ist die psychologische Wirkung. Löwenthal erklärt
psychoanalytisch, was bei dem Adressaten passiert: Es gelingt ihm, das
eigene Unterdrückte auf das fremde Andere zu projizieren. In einer Passage
erläutert Löwenthal dies anschaulich mit den „Schmutz“- und
„Dreck“-Metaphern, die Agitatoren für Migranten verwenden.
Sie zielen damit (unbewusst) auf das Trauma der Reinlichkeitserziehung, das
das kindliche Subjekt erfährt – psychoanalytisch gesprochen ist die Lust am
Schmutz fortan die „verbotene Frucht“. Der Agitator macht dem nunmehr
Erwachsenen das Angebot, die verbotene Lust auf die Fremden, die in „sein“
Land kommen, auszulagern. Der Schmutz, das sind die anderen. Auf ähnliche
Weise funktionieren viele Projektionsflächen, die Agitatoren anbieten.
In Bezug auf die Gegenwart wirft dieses Buch viele Fragen auf. Denn
Löwenthals Abschlussbemerkung gilt noch heute: „Die sozialwissenschaftliche
Analyse als solche zerstört weder den Anreiz der Agitation auf sein
Publikum, noch liefert sie einen politischen Plan zur Opposition gegen den
Agitator. Aber sie vermag zumindest die wahre soziale und psychologische
Bedeutung der Agitation bloßzulegen – ein vielleicht nicht unwesentlicher
Schritt zu ihrer Verhütung.“
Und Lehren kann man eben doch aus der Lektüre ziehen. Etwa, dass die
Emotionalisierung von Politik, die heute auch von (vermeintlich)
progressiven Kräften vorangetrieben wird, immer gefährlich ist, nicht nur,
wenn sie von rechts kommt. Man kann auch mit Sorge beobachten, wie anfällig
Demokraten und demokratische Parteien für die Übernahme der antipolitischen
Rhetorik der Agitatoren sind (zum Beispiel Markus Söders Ausspruch vom
„Asyltourismus“).
Und was jene betrifft, bei denen die Propaganda verfängt, muss man sich
ehrlich machen: Wenn es – oft, nicht immer – politikferne Motive sind, die
die Leute in die Arme der Agitatoren treibt, dann können zum Beispiel auch
Demokratiearbeit, Sozialarbeit und Kulturarbeit dazu beitragen, dies auf
lange Sicht zu verhindern.
31 May 2021
## LINKS
[1] /Nachruf-Soziologe-Helmut-Dubiel/!5249152
[2] /Ein-Gruender-der-Frankfurter-Schule/!5656747
## AUTOREN
Jens Uthoff
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