Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ende der Querdenker-Bewegung: Urlaub von der Wirklichkeit
> Die Querdenken-Bewegung ist am Ende. Doch die mediale Infrastruktur, die
> sie aufgebaut hat, ist für Fake News jederzeit wieder reaktivierbar.
Bild: Der Querdenker-Spuk ist erst mal vorbei, aber die Infrastruktur bleibt
Es werden Ausweise ausgegeben, die ihre Besitzer als Einwohner eines
autonomen Landes ausweisen. Es gibt eigene Anwälte, die pro bono für die
Rechte der Demonstranten eintreten, und Barden, die auf der Wandergitarre
Protestlieder vortragen. Weil „die Presse“ nicht unvoreingenommen
berichtet, hat man sich „alternative Medien“ geschaffen. Man demonstriert
in ausgefallenen Kostümen, meditiert gegen den Feind, fordert
Basisdemokratie statt „Parteiendiktatur“.
Das ist nicht die Beschreibung einer Coronaleugner-Demo zu ihren
Hochzeiten. So ging es 1980 in der Republik Freies Wendland zu. Viele der
Methoden derer, die im letzten Jahr gegen die Coronapolitik der
Bundesregierung protestierten, lassen sich auf den Modus Operandi der
„Neuen Sozialen Bewegungen“ der 1970er und 1980er Jahre zurückführen: Die
Umwelt- und Friedensbewegung, die Gegner von Atomkraftwerken und Startbahn
West verwendeten Methoden des zivilen Ungehorsams, schufen eine eigene
Infrastruktur von Rechtsbeiständen, Medizinern und – besonders wichtig –
eigenen Medien.
Es gibt freilich einen entscheidenden Unterschied: Anders als die
[1][Querdenker] verfolgten die Neuen Sozialen Bewegungen republikanische
Ziele. Sie leisteten Widerstand gegen objektives Unrecht und fragwürdige
politische Entscheidungen, die sie aus guten Gründen ablehnten. Viele
dieser Ziele sind heute mehrheitsfähig oder gar durchgesetzt. Die Truppe,
die sich unter dem Banner des Querdenkertums zusammenfand, trieb teils ganz
andere Ziele um. Diese reichten von legitimer Kritik an den Coronamaßnahmen
bis zu wilden Staatsstreichsfantasien.
Dass diese kuriose Allianz nicht von Dauer sein würde, war vorherzusehen.
Dass in Deutschland altvordere Ökos und aktenkundige Nazis,
AfD-Abgeordnete, abgedriftete DDR-Bürgerrechtler und Ausdruckstänzer einen
gemeinsamen Nenner haben, bedauerlicherweise auch. Ihre Gemeinsamkeit war
letztlich, dass man sich nichts vorschreiben lassen wollte und dass alles
immer so bleiben soll, wie es ist. Jede noch so absurde Forderung wurde im
Namen des „Volkes“ vorgetragen. Dabei waren die Querdenker letztlich nur
der Aufstand ein paar grantiger Boomer.
## Sozialen Medien als Propagandainstrument
Doch der Abenteuerurlaub von der Wirklichkeit ist vorbei, der Niedergang
der [2][Querdenker] unübersehbar: Zu den Veranstaltungen kommen kaum noch
Leute. Viele Wortführer sind abgetaucht. Andere müssen nun die
strafrechtlichen Folgen ihres verantwortungslosen Tuns gewärtigen.
Einige Protagonisten versuchen noch, diese Tatsachen zu verdrängen, manchen
ist die Verbitterung inzwischen deutlich anzusehen. All das kann man live
verfolgen. Denn die Querdenker haben in kurzer Zeit eine autonome,
parallele mediale Infrastruktur aufgebaut, die zeitweise eine erstaunliche
Mobilisierungskraft hatte. Nun zeigen diese Kanäle, wie sich die Szene
zerlegt.
Trotzdem bleibt festzuhalten: Querdenken und Co. haben zeitweise einen
virtuosen Einsatz der sozialen Medien und von Videostreaming als
Propagandainstrument betrieben, der in der breiten Öffentlichkeit kaum
wahrgenommen wurde. Bei Streamingdiensten wie DLive, Twitch oder YouTube,
bei denen man Livesendungen per Webcam oder Smartphone verbreiten kann,
sind nach wie vor täglich Übertragungen von den Demos und Kundgebungen der
Szene zu sehen – auch wenn kaum noch wer kommt. Oder es werden faktenfreie
Diskussionsrunden veranstaltet, in denen von „Merkill-Diktatur“,
„Giftspritzen“, der „New World Order“ oder dem „Great Reset“ gefase…
Diese Sendungen, die teilweise Zehntausende Zuschauer verfolgen, haben oft
fast den Charakter von Live-TV-Sendungen, bei denen zwischen verschiedenen
Schauplätzen hin und her geschnitten wird oder Kommentatoren zugeschaltet
werden. Dank Streamingtechnologie schufen ein paar Leute mit Smartphones
und unlimitiertem Datenvolumen ein dezentrales Medienimperium, das seinen
Zuschauern den Eindruck einer riesigen Unterstützerschaft suggeriert, auch
wenn die tatsächliche Beteiligung vernachlässigbar war: Als
Corona-Oberprofiteur [3][Michael Ballweg] in Stuttgart als
Bürgermeisterkandidat antrat, erhielt er gerade einmal 1 Prozent der
Stimmen. Gleichzeitig konnten seine Fans den Wahlkampf in den sozialen
Medien so dominieren, dass man meinen konnte, sie seien ein nennenswerter
Teil der Wähler.
Es ist wohl auf solche antidemokratischen Methoden zurückzuführen, dass
etwa der sächsische Ministerpräsident Kretschmer zu Jahresbeginn von
„Öffnungswünschen der Bevölkerung“ redete, während laut Umfragen ein
Drittel der Deutschen die geltenden Coronaregeln unterstützte und ein
weiteres Drittel härtere Maßnahmen forderte. Ähnliches konnte man schon bei
Pegida oder den sogenannten Montagsdemonstrationen 2015 beobachten: Einer
kleinen Gruppe von Querulanten gelangt es damals, den öffentlichen Diskurs
nachhaltig zu beeinflussen.
Auch wenn der Querdenker-Spuk jetzt erst mal vorbei ist, ist die mediale
Infrastruktur robust, die für derartige Desinformationskampagnen eingesetzt
werden kann. Sie wird bei der nächsten gesellschaftlichen Verwerfung oder
politischen Großlage wieder dazu genutzt werden, Fake News zu verbreiten,
Spenden oder „Schenkungen“ zu sammeln. Und die nächste Kohorte schlichter
Gemüter auf die Idee bringen, dass sie in einer schlimmeren Diktatur als
der DDR oder dem Dritten Reich leben. Für eine Demokratie ist das nicht
gesund.
Solange man bei Streamingdiensten erzählen kann, was man will, und diese
Unternehmen sogar noch eigene Kryptowährungen anbieten, mit denen man
Hetzer für ihre Tiraden belohnen kann, wird dieses Geschäftsmodell
attraktiv bleiben. Der mediale Schoß, aus dem die Querdenker krochen,
bleibt fruchtbar.
21 Jun 2021
## LINKS
[1] /Querdenker-bei-der-Polizei/!5769826
[2] /Die-Partei-dieBasis-und-ihre-Vorsitzende/!5767969
[3] /Verfassungsschutz-und-Querdenker/!5762967
## AUTOREN
Tilman Baumgärtel
## TAGS
Verschwörungsmythen und Corona
Verschwörungsmythen und Corona
Fake News
"Querdenken"-Bewegung
Coronaleugner
Verschwörungsmythen und Corona
Lesestück Recherche und Reportage
Verschwörungsmythen und Corona
Dresden
Hamburg
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Schwerpunkt Landtagswahl in Sachsen-Anhalt
## ARTIKEL ZUM THEMA
Anstehender Coronaprotest: Jetzt wieder quer auf der Straße
Am Wochenende wollen die „Querdenker“ in Berlin auflaufen und damit einen
„Sommer der Freiheit“ einläuten. Gegenprotest hat sich angekündigt.
„Querdenken“ in den Hochwassergebieten: Die braune Flut
„Querdenken“ und die rechte Szene nutzen die Hochwasserkatastrophe für
Propaganda gegen den Staat. Angebliche Solidarität ist Stoff der
Selbstvermarktung.
Corona-Leugnung auf Telegram: Der digitale Strippenzieher
Frank Schreibmüller hat den Online-Kaninchenbau einer
verschwörungsideologischen Bewegung gegraben, die immer mehr nach rechts
driftet. Ein analoger Ortsbesuch.
Prozess gegen Querdenker: Das Gesetz schlägt zurück
Viktor K. steht vor Gericht, weil er auf einer Querdenker-Demo in Hamburg
eine Polizistin mit einem Grundgesetz geschlagen haben soll.
Dresdens neue Stadtschreiberin: Abgedriftet in die Querdenker-Szene
Die Autorin Kathrin Schmidt wurde als Stadtschreiberin von Dresden geehrt.
Inzwischen bereut ein Teil der Jury die Wahl.
Gründung einer Querdenkerschule: Antrag zurückgezogen
Der Antrag auf Gründung einer Querdenker-nahen Schule in Hamburg wurde nach
einem taz-Bericht zurückgezogen. Trotzdem wird die Idee weiter beworben.
Neuauflage „Falsche Propheten“: Die Verführenden
Leo Löwenthal hat 1949 Populismus und Demagogie analysiert. Die
Mechanismen, die er mit der Psychoanalyse beschrieb, greifen heute wieder.
Die Partei dieBasis und ihre Vorsitzende: Meditation und Verschwörung
Die Partei dieBasis und ihre Vorsitzende Diana Osterhage wollen aus dem
Querdenker-Milieu heraus in den Bundestag einziehen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.