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# taz.de -- Kamala Harris und die Demokratie: Eine gelingende Lebensform
> Kamala Harris hat verstanden, dass Demokratie ein Prozess und kein
> Zustand ist. Das mag auch an der Philosophie von John Dewey liegen.
Bild: Weiß, dass es um alles geht: Kamala Harris
Nicht alle hiesigen [1][Kommentatorinnen] sind von Kamala Harris
begeistert; einige wiederum sehen in ihr das Beste, was die politische
Kultur der USA zu bieten hat: so Octave Larmagnac-Matheron im [2][aktuellen
Philosophie Magazin,] wo Harris zu einer Anhängerin, wenn nicht gar
Verkörperung von John Deweys Philosophie erklärt wird.
Habe sie doch schon in ihrer ersten Rede einen Essay des im Juli 2020
verstorbenen schwarzen Bürgerrechtlers John Lewis mit der Bemerkung
zitiert, „dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit und nur so stark
sei wie unser Wille, für sie zu kämpfen, sie zu beschützen und sie niemals
für gegeben hinzunehmen“.
In diesem Essay bezog sich Lewis auf den Philosophen John Dewey
(1859–1952), als er schrieb, dass Demokratie eine Handlung sei und jede
Generation ihren Beitrag leisten müsse, „das aufzubauen, was wir unsere
geliebte Gemeinschaft bezeichnen, eine Nation und Weltgesellschaft, die mit
sich selbst im Frieden ist“.
Das aber sei – so wiederum das Philosophie Magazin – ein Hinweis auf Deweys
1916 erschienenen Essay „The Need of an Industrial Education in an
Industrial Democracy“, in welchem der Philosoph festgestellt habe: „Die
Demokratie muss in jeder Generation neu geboren werden und Bildung ist ihre
Hebamme.“
## Pragmatische Philosophie
So richtig das alles sein mag, so wenig dürfte der Hinweis auf einen
pragmatistischen Philosophen auf den ersten Blick begeistern: wird doch
unter „pragmatisch“ oder „pragmatistisch“ in der Regel ein Vorgehen
verstanden, das sich am jeweils Machbaren orientiert, nicht unbedingt
prinzipienfest ist und wenig anderes besagt, als gerade auf Sicht zu
fahren.
Mehr noch: Es war ein herausragender Vertreter der Frankfurter Schule, Max
Horkheimer, der die Philosophie des Pragmatismus aufs Schärfste
kritisierte: in seiner 1947 publizierten Streitschrift „Zur Kritik der
instrumentellen Vernunft“ zieht Horkheimer die Philosophie des Pragmatismus
– nicht zuletzt John Deweys – einer aufs jeweils technisch Machbare,
letztlich auf Naturbeherrschung reduzierten Grundhaltung.
Doch könnte nichts falscher sein als dieses Verdikt – bedeutete doch der
Begriff des „Pragmatischen“ bei dieser Philosophie nichts anders als auf
„intersubjektive Handlungen bezogen“.
Diese von Charles Sanders Peirce (1839–1914), William James (1842–1910),
Jane Addams (1860–1935), George Herbert Mead (1863–1931) und John Dewey
entfaltete Philosophie ging nicht mehr – wie die klassische kontinentale
Philosophie – vom Denken und vom Begriff aus, sondern davon, dass
menschliches Denken Ausdruck intersubjektiven, kommunikativen und
instrumentellen Handelns in der Welt ist.
## Demokratie als Inbegriff jeden sozialen Lebens
Deweys weiterer Vorschlag, in der Demokratie den Inbegriff aller gelungenen
menschlichen Lebensformen zu verstehen, ist von ihm nicht nur in seinem
Hauptwerk „Demokratie und Erziehung“ (1916) entfaltet worden, sondern
durchzieht sein ganzes Werk.
„Demokratie“ erweist sich für Dewey eben nicht als eine beliebige unter
mehreren Herrschaftsformen, sondern als Inbegriff jeden sozialen Lebens
überhaupt. Gemeinschaftliches, auf Reziprozität, wechselseitige Anerkennung
und gemeinsame Problemlösung ausgerichtetes Leben ist diejenige evolutionär
erworbene Form, in der allein die menschliche Gattung ihre Intelligenz und
ihre Problemlösungskapazitäten ausbilden konnte.
Undemokratische Lebensformen vermindern demnach die Entfaltung und
Entfesselung menschlicher Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten. Die
jeweiligen Institutionen etablierter demokratischer Systeme erscheinen so
als temporäre, jederzeit revidierbare und optimierbare Einrichtungen zur
Weiterentwicklung menschlicher Persönlichkeiten und Beziehungen.
1927, als sich in den USA eine erste große Modernisierungskrise
abzuzeichnen begann, verfasste John Dewey daher ein Buch über die „Die
Öffentlichkeit und ihre Probleme“. Demnach ist die Demokratie keine
beliebige Alternative zu anderen Formen des sozialen und politischen
Lebens, sondern letztlich mit der Idee einer gelingenden Gemeinschaft
identisch.
## Erfahrung und Erneuerungswissen
Das mag naiv erscheinen, ist aber gleichwohl einer Überlegung wert: wahre
Gemeinschaft wirkt nur dort, wo Demokratie herrscht, wo sich alle anerkannt
sehen, während umgekehrt wahre Demokratie nur dort existiert, wo alle durch
ein gemeinsames Bewusstsein, dem Gemeinwesen angehörig und ihm
verantwortlich zu sein, geprägt sind.
Dieses Bewusstsein, das mehr ist als nur ein Wissen, nämlich ein
grundsätzliches Lebensgefühl, ist auf das Zusammenwirken der Generationen,
die Erfahrung der einen und den Erneuerungswillen der anderen angewiesen.
Vor allem aber – das war John Deweys tiefste Überzeugung – hängt eine
demokratische Lebensform von einer ungehinderten und so weit wie möglich
transparenten Öffentlichkeit ab, also davon, dass alles, was das
demokratische Gemeinwesen bewegt und angeht, allen seinen interessierten
und engagierten Mitgliedern offen steht.
Demokratische Institutionen, die ihren Mitgliedern und ihren Bürgern nicht
das gleiche Vertrauen entgegenbringen, das in geglückten
Generationsverhältnissen zwischen Eltern und Kindern herrscht, sind zum
Misserfolg verurteilt. Umgekehrt gewinnt das demokratische Gemeinwesen
überall dort an Kraft, wo dieses Vertrauen herrscht.
## Ungesteuerte soziale Prozesse
Dass das in kleineren Städten, aufgrund des hohen Grades persönlicher
Bekanntschaft, eher möglich ist als in sehr großen Metropolen, verleiht
ihnen für Dewey als Laboratorien der Demokratie bei der Erneuerung jeder
Gesellschaft besondere Anerkennung, aber auch besondere Verantwortung.
Daraus aber folgt nichts anderes als der Gedanke, dass auch politische
Formen wie die Demokratie nicht das Ergebnis von Ideen, sondern von zum
Teil ungesteuerten sozialen Prozessen sind. Mehr noch: Auch philosophische
Begriffe und Kategorien wie „Individualität“, „Recht“ oder „Rechte“
erweisen sich so als abgeleitete, nachträglich sozialen Veränderungen
zugeschriebene Begriffe.
Deweys Schrift „Die Öffentlichkeit und ihre Probleme“ stellt daher nicht
nur die Vieldeutigkeit des Begriffs der „Demokratie“ fest, sondern beharrt
mit Nachdruck darauf, dass sich die darunter verstandene politische Form
einer einzigen, klaren Idee verdanke. Dewey, dessen Denken von Darwins
Evolutionstheorie geprägt ist, nahm an, dass die politische Form der
Demokratie evolutionär als Anpassung an eine Reihe sozialer Veränderungen
entstanden sei.
„Aber Theorien über das Wesen des Individuums und seine Rechte, über
Freiheit und Autorität, Fortschritt und Ordnung, Freiheit und Recht, über
das Gemeinwohl und einen allgemeinen Willen, über die Demokratie selbst,
haben die Bewegung nicht hervorgebracht. Sie spiegelten sie in Gedanken
wider; nachdem sie entstanden waren, traten sie in die nachfolgenden
Bestrebungen ein und hatten praktische Wirkung.“
## Vom Bolschewiki zum Kalten Krieger gegen den Marxismus
Es ist zweifelhaft, ob Kamala Harris in der Lage sein wird, die
gegenwärtigen USA, die dem Bild einer demokratischen Gemeinschaft nicht
entsprechen, im Geiste Deweys zu erneuern: wird ihr doch – keineswegs zu
Unrecht – nachgesagt, [3][keine Linke zu sein]. Aber das war John Dewey am
Ende seines Lebens auch nicht mehr: Früh von der Revolution der Bolschewiki
begeistert, [4][ernüchterten ihn die Moskauer Schauprozesse] gegen Trotzki
so, dass er 1937 an einer Kommission zu den gegen Trotzki erhobenen
Vorwürfen mitwirkte und sie für falsch befand.
Sein Leben lang ein erklärter demokratischer Sozialist und Feminist, wurde
er auf seine alten Tage sogar ein entschiedener „Kalter Krieger“, der den
Marxismus auch theoretisch ablehnte. Seine hierfür vorgebrachten Gründe
sind beachtlich.
Sollte Harris tatsächlich in dieser Tradition stehen, kann sie nur
gewinnen.
22 Nov 2020
## LINKS
[1] /Erste-US-Vizepraesidentin-Harris/!5723651
[2] https://www.philomag.de/artikel/kamala-harris-eine-deweyanerin
[3] /Erste-US-Vizepraesidentin-Harris/!5723651
[4] /Metropol-von-Eugen-Ruge/!5629823
## AUTOREN
Micha Brumlik
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