# taz.de -- Historie der Religionen weltweit: Getrieben von religiösen Motiven | |
> Der Religionswissenschaftler Michael Stausberg hat eine nicht ganz | |
> unproblematische Globalgeschichte der Religionen im 20. Jahrhundert | |
> vorgelegt. | |
Bild: Figuren von Buddha und Bhimrao Ramji Ambedkar, Sozialreformer und Autor d… | |
„Die Kritik der Religion“, so Karl Marx 1843, „endet mit der Lehre, daß … | |
Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen | |
Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein | |
erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen | |
ist.“ | |
Mehr als 150 Jahre später geben Soziologen und Philosophen bekannt, dass | |
das säkulare Zeitalter an sein Ende gekommen sei, die Menschheit sich also | |
in einem „postsäkularen“ Zeitalter befinde, Religionen mithin wieder in | |
allen Bereichen der globalisierten Welt eine entscheidende Rolle spielen – | |
was allemal auch auf das eher unerwartete Auftreten des politischen Islams, | |
des Islamismus zurückzuführen ist. | |
So hat Jürgen Habermas schon 2001, bei der Verleihung des Friedenspreises | |
des Deutschen Buchhandels, moderne Gesellschaften als postsäkulare | |
Gesellschaften bezeichnet – was die Frage aufwirft, wann denn jemals | |
säkulare Gesellschaften existierten. | |
## Erstaunlich buntes Panorama | |
Eine soeben erschienene, neue Publikation ist in der Tat dazu geeignet, | |
Habermas’ These gegen die Ansicht seines damaligen Kontrahenten, des | |
kanadischen Philosophen Charles Taylor – er erklärte die Moderne für | |
„säkular“ –, zu stützen. Erhebt doch der von dem norwegischen | |
Religionswissenschaftler Michael Stausberg verfasste Band „Die | |
Heilsbringer“ nicht weniger als den Anspruch, eine Globalgeschichte der | |
Religionen im 20. Jahrhundert vorzulegen. | |
Der Autor löst diesen Anspruch durch 47, in Worten: siebenundvierzig | |
biografische Vignetten ein; Kurzporträts, die so gegensätzliche | |
Gestalten wie Mary Baker Eddy, die Begründerin der „Christlichen | |
Wissenschaft“, Adolf Hitler und Lew Tolstoi, aber eben auch den Begründer | |
der Olympischen Spiele, Pierre de Coubertin, sowie Mutter Teresa umfassen. | |
Dass all diese Personen in irgendeiner Weise von religiösen Motiven | |
getrieben wurden beziehungsweise bei ihren Anhängerinnen religiöse Gefühle | |
auslösten – das nachzuweisen gelingt Stausberg durchaus. Stausberg geht in | |
seinem Buch induktiv vor: ohne einen vorgefassten Begriff von „Religion“, | |
einen Begriff, den er erst am Ende seines Werks entfaltet. | |
Zuvor aber wird das Lesepublikum Zeugin eines erstaunlich bunten Panoramas | |
teils irgendwie bekannter, aber auch gänzlich unbekannter Persönlichkeiten: | |
Wer hat denn schon einmal von der Göttin und Heiligen Anandamayi Ma – sie | |
lebte von 1896 bis 1982 – gehört oder gelesen, wer hätte gedacht, dass der | |
Filmregisseur Stanley Kubrick ein „homo religiosus“ war? | |
Das Panorama der von Stausberg präsentierten Persönlichkeiten ist | |
überwältigend, wenngleich die einzelnen Gestalten nicht alle gleich gut | |
ausgeleuchtet sind. Das gilt nicht zuletzt für die von Stausberg nicht ohne | |
Sympathie geschilderten Begründer des politischen Islams, Sayyid Qutb und | |
Hassan al-Banna, die beide 1949 beziehungsweise 1966 in Gamal Abdel Nassers | |
Ägypten hingerichtet wurden. Beide wurden 1906 geboren, waren Literaten und | |
Dichter, aber nur Qutb verbrachte einige Zeit im Westen, in den USA. Dort | |
stellte er mangelnden religiösen Tiefgang sowie eine in seinen Augen | |
abscheuliche sexuelle Freizügigkeit fest, was ihn zu einem entschiedenen | |
Feind der westlich-liberalen Kultur machte. | |
Bei alledem unterschlägt Stausberg, dass sowohl Qutb als auch Banna | |
überzeugte Antisemiten waren – eine Facette ihrer Persönlichkeit, die | |
nicht hätte verschwiegen werden dürfen, will man den modernen Islamismus | |
verstehen. | |
## Sehnsucht nach Spiritualität | |
Bei der Lektüre des Buches fällt zudem auf, wie viele indische | |
Persönlichkeiten behandelt werden – was nicht zuletzt mit der westlichen | |
Sehnsucht nach Spiritualität zu tun hat, eine Sehnsucht, die die schon | |
erwähnte Anandamayi Ma und Bhagwhan Shree Rajneesh zumal für jugendliche | |
Anhänger der Popkultur attraktiv machten. | |
Freilich waren – im Falle Indien – Spiritualität, Kritik des Kolonialismus | |
und erklärte Religiosität auch in der welthistorischen Gestalt eines | |
Mannes vereinigt: in Mahatma Gandhi, dessen Engagement Stausberg keineswegs | |
unkritisch schildert, war doch Gandhi bei all seinem antikolonialen | |
Engagement kein Gegner des skandalös ungerechten und menschenverachtenden | |
hinduistischen Kastensystems. | |
Umso mehr gebührt dem Autor Dank dafür, den großen, hierzulande und | |
weltweit viel zu wenig bekannten ersten Justizminister des unabhängigen | |
Indiens, Bhimrao Ambedkar (1891–1956), angemessen zu würdigen, und das | |
mit der Schilderung einer Szene, die tatsächlich ergreift: Haben sich doch | |
im Oktober 1956 in der zentralindischen Stadt Nagpur etwa 400.000 weiß | |
gekleidete Menschen zusammengefunden, um sich kollektiv vom Glauben an die | |
Götter des Hinduismus abzukehren und zu Buddha zu bekehren. | |
Bei dieser Gelegenheit verkündete Ambedkar: „Indem ich meine alte Religion | |
verwerfe, die für Unterdrückung und Ungleichheit stand, bin ich heute | |
neugeboren … Ich bin kein Verehrer der Hindu-Götter und -Göttinnen mehr …… | |
Dass die indische Nationalflagge in ihrer Mitte keine Spindel – wie Gandhi | |
das wollte –, sondern ein Rad aufweist, geht ebenso auf Ambedkar zurück, | |
wie es für ihn typisch war, im Unterschied zu Gandhi immer nur in | |
westlicher Kleidung aufzutreten. Ambedkars Leben und Wirken sind ein | |
Beispiel dafür, dass die postkoloniale Kritik an der sogenannten | |
Verwestlichung keineswegs immer stichhaltig ist. | |
## Ironie mit Hitler | |
Aber wie gerät dann auch Adolf Hitler in die Religionsgeschichte des 20. | |
Jahrhunderts? Nun, ein Zweifel ist nicht möglich: Adolf Hitler, jener | |
dilettierende Halbintellektuelle, der sich unter anderem an den | |
Musikdramen Richard Wagners berauschte, glaubte auf seine Weise an Gott – | |
was Passagen aus „Mein Kampf“ zweifelsfrei belegen. Heißt es doch dort: �… | |
glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich | |
mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“ | |
Dazu glaubt Stausberg ironisch anmerken zu sollen, dass Hitler damit den | |
Deutschen als auserwähltem Volk Züge des Judentums angedichtet habe: | |
Volkszugehörigkeit als Abstammung sowie Fantasien von Landnahme. Eine | |
Ansicht, die Stausberg schon vorher dazu geführt hat, den nun wirklich in | |
jeder Hinsicht areligiösen Begründer des politischen Zionismus, Theodor | |
Herzl, in seine Anthologie aufzunehmen. | |
Freilich findet Stausberg religiöse Motive auch bei solchen Gestalten, bei | |
denen man derlei wirklich nicht vermutet hätte – etwa bei Mao Zedong, dem | |
er eine Verbundenheit zu drei Motiven des Konfuzianismus unterstellt: das | |
Ideal des einfachen Lebens, die Bedeutung von Disziplin sowie die | |
Notwendigkeit kontinuierlicher Selbstkritik. | |
## Kontingenzbewältigung und Niklas Luhmann | |
In den abschließenden Worten dieses lesenswerten Buches heißt es denn auch: | |
„Religion lässt sich daher nicht auf ein bestimmtes | |
Wirklichkeitsverständnis festlegen. Unter Religion kann man vielmehr | |
organisierte Strategien verstehen, das Unkontrollierbare durch Wort und Tat | |
beherrschbar zu machen, das Unberechenbare planbar, das Unverfügbare | |
steuerbar, das Absolute nahbar, das Unerreichbare greifbar.“ | |
In soziologischen Begriffen, etwa jenen Niklas Luhmanns, geht es mithin um | |
Semantiken oder Praktiken der Kontingenzbewältigung, während ein | |
idealistischer Philosoph wie Schleiermacher von „Sinn und Geschmack fürs | |
Unendliche“ und später vom „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ spra… | |
Man mag darüber sinnieren, ob das auch für die Beatles – ihnen widmet der | |
Verfasser 25 Seiten – oder Pierre de Coubertin gilt. | |
Stausberg schließt mit den Worten: „Das Kreativitätspotenzial des | |
Religionmachens ist im 20. Jahrhundert noch lange nicht ausgeschöpft | |
worden“– eine nach der Lektüre dieses Buches eher beunruhigende | |
Perspektive. | |
12 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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