# taz.de -- „Neue Fischer Weltgeschichte“: So ehrgeizig wie erfolgreich | |
> Die „Neue Fischer Weltgeschichte“ zeigt Zusammenhänge zwischen Regionen | |
> auf. Die Reihe ist ein Glanzstück historischer Darstellung. | |
Bild: Die Fischer-Reihen bietet mehr zu den Hintergründen des Sklavenhandels: … | |
Menschliches Handeln und Leiden, von Einzelnen und Gruppen, vollzieht sich | |
an bestimmten Orten im Lauf der Zeiten. Die Menschen machen – so schon Karl | |
Marx – ihre eigene Geschichte, aber unter Bedingungen, die sie nicht selbst | |
gewählt haben. | |
Die Soziologie lehrt seit einiger Zeit, dass Menschen nicht mehr in | |
nationalen Gesellschaften, sondern in genau einer Weltgesellschaft leben. | |
Deshalb fällt der Blick jetzt auf die Vorgeschichte dieser Weltgesellschaft | |
– auf das, was heute in der Geschichtswissenschaft en vogue ist und | |
„transnationale Geschichte“ genannt wird. | |
Dem will der Frankfurter S. Fischer Verlag, einer der renommierten | |
Publikumsverlage, mit einer neuen Reihe entsprechen: Im letzten Herbst sind | |
die drei ersten Bände der „Neuen Fischer Weltgeschichte“ erschienen. In | |
einer Vorbemerkung, die gleichlautend allen Bänden vorangestellt ist, heißt | |
es programmatisch, in geschichtsphilosophischer Emphase, dass die | |
„Vorstellung eines Ganzen im Ablauf der Zeit“ eine notwendige, regulative | |
Idee der Weltgeschichte sei, aber kein Mensch diese Gesamtheit empirisch | |
erfassen könne. | |
Daher bilde die Aufgliederung des Globus in „überschaubare, geographisch | |
vorgegebene und historisch gewachsenen Regionen den Ausgangspunkt. | |
Innerhalb dieses Rahmens versteht sie sich nicht als Geschichte von Ländern | |
und Staaten, sondern als eine solche von Räumen und der Wechselwirkungen | |
zwischen ihnen.“ | |
Freilich: Die neue Reihe schließt an ein ebenso ehrgeiziges wie | |
erfolgreiches Projekt des Verlags an, nämlich die zwischen 1965 und 1982 in | |
36 Taschenbüchern publizierte „Fischer Weltgeschichte“, die von Band 1 | |
„Vorgeschichte“ bis Band 36 „Das Zwanzigste Jahrhundert III: Weltprobleme | |
zwischen den Machtblöcken“ Generationen von Sozial-, Geistes- und | |
Kulturwissenschaftlerinnen an Universitäten und Schulen durch Studium und | |
Berufsleben begleitet hat. | |
## Hardcover statt Taschenbuch | |
Der Relaunch, die neue, von Jörg Fisch, Wilfried Nippel und Wolfgang | |
Schwentker konzipierte und herausgegebene Reihe überzeugt so, wie sie in | |
den ersten drei Bänden vorliegt, keineswegs in allen Zügen. Im Unterschied | |
zur älteren, jetzt digital erhältlichen „Fischer Weltgeschichte“ scheint | |
der Gebrauchswert auf den allerersten Blick geringer. Das drückt sich schon | |
in Äußerlichkeiten aus: So war das flexible Taschenbuchformat der älteren | |
Reihe handlicher und ansprechender als die zu groß geratenen, aus Pappe | |
bestehenden, mit papierenem, bebildertem Schutzumschlag und Lesebändchen | |
versehenen Hardcoverausgaben der neuen Reihe. | |
Unübersehbar fällt zudem eine gewisse Provinzialität auf: War die ältere | |
Reihe wirklich international, von der Crème de la Crème der weltweiten | |
Historikerzunft verfasst, so sind für das neue Unternehmen mit wenigen | |
Ausnahmen nur deutschsprachige Autorinnen verpflichtet worden. | |
Und nicht zuletzt – die ältere Reihe bot mehr fürs Geld. Ein Taschenbuch | |
der älteren Reihe kostete um die zwanzig Mark, während für die neuen Bände | |
jeweils knapp dreißig Euro zu berappen sind. Doch all das sind, wie gesagt, | |
nur Äußerlichkeiten – wie ist es um Themen und Inhalte bestellt? | |
Der von Robert von Friedeburg verfasste Band „Europa in der frühen Neuzeit“ | |
stellt, fesselnd geschrieben, bündig argumentierend, ansprechend bebildert | |
sowie struktur- und mentalitätsgeschichtlich informiert die Epoche zwischen | |
den Anfängen der Reformation und der Französischen Revolution dar. Man | |
erhält so auf etwa vierhundert Seiten einen vorzüglichen Überblick, ohne | |
dass es dem Autor in jedem Fall gelungen ist, die von ihm präsentierten | |
Stränge etwa zwischen Bevölkerungs-und Religionsgeschichte systematisch zu | |
verbinden. | |
## Europas Expansion | |
Zum Vergleich: Die ältere Reihe benötigte für den gleichen Zeitraum und | |
dieselbe Region anderthalb deutlich ausführlichere Bände: Richard van | |
Dülmens „Die Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550–1648“ sowie d… | |
halbe, von Louis Bergeron und François Furet verfasste Band „Das Zeitalter | |
der europäischen Revolution“ stehen von Friedeburgs Darstellung in nur | |
wenigem nach. Eine auch nur angedeutete Geschichte der Expansion der | |
europäischen Mächte nach Übersee wird man in den älteren Bänden ebenso | |
vergeblich suchen wie Elemente einer Geschichte der Sklaverei. In dieser | |
Hinsicht ist der neue Band informativer. | |
Zudem ist von Friedeburg ein vorzüglicher Spezialist für das politische und | |
völkerrechtliche Schrifttum jener Zeit, das in anderen Darstellungen kaum | |
Erwähnung findet. Dass von Friedeburgs Skizze von Geschichte und | |
Vorgeschichte der Französischen Revolution hinter den intensiven | |
Forschungen eines der berühmtesten Revolutionshistoriker, François Furets, | |
zurückbleiben muss, versteht sich beinahe von selbst. | |
Nachdenklich lässt der umfassende, von Jürgen Paul verfasste Band über | |
Zentralasien den Rezensenten zurück. Ohne jeden Zweifel dürfte der Autor | |
einer der ganzen wenigen exzellenten Kenner der Geschichte jener weithin | |
unbekannten, riesigen Region sein; einer Region, die sich von den östlichen | |
Teilen Russlands bis nach Iran erstreckt und deren Geschichte von den | |
Mongolen bis zum gegenwärtigen Krieg um Afghanistan reicht. Über | |
Jahrhunderte war die Region nicht nur von Handelswegen über Land, sondern | |
auch von Sklaverei geprägt. | |
Mit diesem Band ist es dem Autor gelungen, dem Konzept der ganzen Reihe | |
gerecht zu werden, nämlich an einem (riesigen) Großraum über eine Zeit von | |
mehr als zweitausend Jahren hinweg zu demonstrieren, was es heißen kann, | |
wenn Agenten zweier basaler Kulturformen, Ackerbauer und Nomaden, in immer | |
neuen Konstellationen, unter veränderten politischen, ökonomischen, | |
sprachlichen und religiösen, nicht zuletzt islamischen Vorzeichen | |
aufeinandertreffen. Damit hat Jürgen Paul den Blick auf eine lange | |
vergessene Region eröffnet, deren politische und welthistorische Bedeutung | |
ob ihrer – unter jahrhundertelang als Weiden benutzten Böden liegenden – | |
Bodenschätze in Zukunft nur zunehmen kann. | |
## Postkoloniale Geschichte | |
Die Geschichte einer Region, die heute unübersehbar als ökonomische und | |
militärische Großmacht auf den Plan getretenen ist, hat der britische | |
Historiker David Arnold geschrieben. Seine mehr als fünfhundert Seiten | |
starke Geschichte Südasiens ist nicht nur ein Glanzstück historischer | |
Darstellung, sondern vermittelt auch Hintergrundwissen über eine ganze | |
Zivilisation, die vor mehr als viertausend Jahren am Indus ihren Anfang | |
nahm und sich in ihren theologischen, philosophischen sowie in ihren | |
politischen Welt- und Herrschaftsbezügen massiv von allem, was Europa | |
vertraut war und ist, unterscheidet. Buddhismus, Hinduismus und | |
Kastenherrschaft – was hierzulande als klare, einfache Formation erscheint, | |
hat selbst eine wechselvolle Geschichte, in der sich alles, was man unter | |
diesen Begriffen verstehen will, mehrfach grundlegend verändert hat. | |
Das ist nicht nur für die aktuelle, globalisierungspolitische Debatte von | |
besonderer Bedeutung, sondern auch für die intellektuellen | |
Auseinandersetzungen um die beinahe zu modisch gewordene „postkoloniale“ | |
Theorie. Hat sie doch ihr Gepräge nicht zufällig von aus Indien stammenden | |
Intellektuellen erhalten; deren Überlegungen versteht man wesentlich | |
besser, wenn man Arnolds erhellende Abschnitte zur Geschichte Indiens in | |
der Kolonialzeit, also in den Jahren von 1750 bis 1948, gelesen hat. | |
Dann zeigt sich als Erstes, dass ein schlichter Begriff von „Kolonialismus“ | |
der historischen Wirklichkeit in keiner Weise entspricht. Wer hätte etwa | |
gedacht, dass die britische Herrschaft über Indien – „British Raj“ – v… | |
einem zahlenmäßig zu vernachlässigenden Personal ausgeübt wurde: 1901 | |
lebten in Indien 300 Millionen Menschen, von denen noch nicht einmal | |
170.000 Europäer waren – was nichts oder nur wenig am grundlegenden | |
Rassismus dieser Herrschaft änderte. | |
Freilich belässt es Arnold nicht bei einer politischen oder religiösen | |
Geschichte dieser alten Zivilisationen, stärker noch als die Autoren der | |
anderen Bände arbeitet er an einer Integration der Indien bis heute | |
prägenden Sozial- und Geschlechtergeschichte, der Geschichte von Armut, | |
Hunger und Herrschaft. „Fischers Neuer Weltgeschichte“ ist zu wünschen, | |
dass ihre künftigen Bände dem glänzenden Beispiel von Arnolds Geschichte | |
Südasiens genügen. | |
6 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
Micha Brumlik | |
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