# taz.de -- Historiker über deutsche Gegenwart: „Von Vergangenheit überschw… | |
> Wie wir wurden, was wir sind: Dieser Frage geht Hans Ulrich Gumbrecht in | |
> seinem Buch „Nach 1945 - Latenz als Ursprung der Gegenwart“ nach. | |
Bild: Gumbrecht über 9/11: „Es war, als ob die Terroristen des deutschen Her… | |
taz: In Ihrem neuen Buch über die Nachkriegsgeschichte legen Sie den | |
eigentlichen Anfang in die 50er Jahre und charakterisieren diese Zeit als | |
„Auftauchen der Stimmung von Latenz“. Was meinen Sie damit? | |
Hans Ulrich Gumbrecht: Wenn man sagt Latenz, dann bedeutet das ja, dass | |
etwas, dessen Präsenz man spürt, nicht greifbar ist. Ich denke, wenn man | |
die Literatur dieser Zeit liest, dann zeichnet sich in den 50er Jahren nach | |
den ersten Reaktionen auf den Krieg plötzlich ein Eindruck von dieser | |
Verhaltenheit ab; also das Gefühl, dass bestimmte intensive Gefühle, | |
bestimmte intensive Ereignisse präsent sind, aber unter einer ruhigen | |
Oberfläche verhalten bleiben. | |
Vor allem wenn man denkt, dass man in dem Alltag jenes Landes aufwuchs, das | |
den Zweiten Weltkrieg ausgelöst und verloren hatte und das nach meiner | |
Meinung das größte Verbrechen der Geschichte, die Schoah, den Holocaust | |
begangen hatte. | |
Ihr Anspruch war es, die Geschichte einer ganzen Generation darzustellen | |
und zu zeigen, „wie wir wurden, was wir sind“. In einem langen letzten | |
Kapitel schildern Sie eine Nachkriegsgeneration, die von der Vergangenheit | |
nie loskommt, sondern sich zwischen Stagnation und der Hoffnung auf eine | |
andere Zukunft im Kreis dreht. | |
Ich glaube, sozusagen die Prämisse meiner Generation war immer, man muss | |
die Vergangenheit ganz transparent machen, man muss die Verantwortlichen | |
dieser Vergangenheit, also unsere Elterngeneration, konfrontieren. Dann ist | |
ein Horizont der Zukunft frei, dann kann man die Zukunft gestalten. Und das | |
hat man in meiner Generation immer wieder versucht, vor allem 1968. Aber | |
diese sogenannte Studentenrevolution ist ja eigentlich gescheitert; also es | |
hat sich nichts verändert an der Vergangenheitsbewältigung. Im Gegenteil, | |
vielleicht ist die deutsche Vergangenheit seitdem noch schwerer geworden. | |
Dasselbe Projekt ist dann im „deutschen Herbst“ von Extremisten, die schon, | |
weil sie bei diesem Programm geblieben waren, in das Abseits der | |
Gesellschaft gedrängt worden waren, noch einmal wiederholt worden. Man hat, | |
denke ich, noch einmal 89 gedacht, dass man nicht nur die westdeutsche | |
Vergangenheit, sondern auch die kommunistische Vergangenheit konfrontieren | |
konnte, aber es hat sich nie diese Befreiung der Zukunft eingestellt. | |
Ihre Darstellung der politischen Entwicklung der deutschen Nachkriegs- und | |
Latenzgeschichte mündet in den 11. September 2001. Sie schreiben: „Es war, | |
als ob die Terroristen des deutschen Herbstes … mit tödlicherem Wahnsinn … | |
im frühen 21. Jahrhundert angekommen wären.“ Wie kommen Sie auf diese | |
ungeheuerliche These? | |
Das ist meine Reaktion auf 9/11 gewesen. Wir haben ja immer gedacht, wenn | |
man die Vergangenheit bewältigt, dann wird man sich damit von der Last der | |
Vergangenheit befreien. Und ich glaube, es gibt kein anderes Land | |
vielleicht in der Weltgeschichte, das so intensiv und aufrichtig versucht | |
hat, diese negative Vergangenheit zu bewältigen. | |
Dennoch war auch für mich 9/11 sozusagen das Erlebnis, zu sehen, dass man | |
sich nicht befreien kann von dem akkumulierten Antisemitismus der | |
Geschichte, der sich ja nicht nur in Deutschland akkumuliert hatte, sondern | |
über 2000 Jahre akkumuliert hatte, und dass man sich nicht befreien kann | |
von dem akkumulierten Antiamerikanismus, dem akkumulierten Ressentiment | |
nach dem Zweiten Weltkrieg, dem akkumulierten Ressentiment der | |
Dekolonialisierung und so weiter. | |
Sondern dass dessen Intensität und die Intensität dieser negativen | |
Vergangenheit gewachsen ist und dass sie dann letztlich zum ersten Mal in | |
der Geschichte in einer zerstörerischen Weise im Jahr 2001 die USA | |
erreichte. Also habe ich 9/11 interpretiert als eine Intensivierung der | |
Negativität der Vergangenheit. Und für mich war das das Ende der Illusion, | |
dass man sich durch Reflexion von der Vergangenheit und den negativen Tönen | |
und Beschwerungen durch sie befreien könnte. | |
Gegen den Trend zur Versöhnung und zur Verharmlosung mit der | |
Nachkriegsgeschichte beharren Sie darauf, dass die Bürde bleibt: „eine | |
Vergangenheit zu erben, von der man ausgeschlossen werden will, aber nicht | |
kann“. | |
Ich glaube, so sind wir aufgewachsen. Ich habe natürlich als Professor an | |
einer amerikanischen Universität sehr viele Freunde und jüdische Kollegen, | |
und die nehmen manchmal mich auf die Rolle, wie ernst mir die deutsche | |
Vergangenheit ist. Aber das ist doch zum Teil ein Entschluss gewesen, | |
vielleicht ein Entschluss in dem Sinn, etwas Unvermeidliches zu | |
akzeptieren. Die Generation der Täter hat sich sicher nicht mit dieser | |
Vergangenheit konfrontiert. | |
Auf der andern Seite hat meine Generation auch nicht mehr die Illusion, | |
dass eine Konfrontation mit dieser Vergangenheit uns befreien wird. Aber | |
ich denke, es steht meiner Generation von Leuten, die in Deutschland | |
geboren sind, gut an, soweit das geht, Verantwortung für etwas zu | |
übernehmen, für das wir subjektiv nicht schuldig sind. | |
Es gibt aber noch einen zweiten Leitgedanken des Buches: die Zeit, das | |
heißt die Zeitvorstellung, die unser Handeln bestimmt. Bis in die 80er | |
Jahre waren das die „großen Erzählungen“ vom menschlichen Fortschritt. | |
Heute aber, so stellen Sie fest, leben wir in einer ganz anderen Zeit. Was | |
bedeutet das für unsere Zukunftsorientierung? | |
Sowohl der Sozialismus als auch in anderer Weise der Kapitalismus gingen | |
davon aus, dass die Zukunft etwas ist, was man gestalten kann und was zu | |
gestalten man die Freiheit hat. Ich glaube, dass dieser Diskurs, in dem wir | |
uns immer noch über Vergangenheit und Zukunft unterhalten, überhaupt nicht | |
mehr unserer alltäglichen Erfahrung von Zeitlichkeit entspricht. Denn ich | |
glaube, in unseren alltäglichen Ängsten, auch in unseren alltäglichen | |
Träumen, aber auch in unserem alltäglichen Verhalten gehen wir eigentlich | |
nicht mehr davon aus, dass zumindest in großen Zügen diese Zukunft | |
gestaltbar ist. | |
Sondern wir gehen davon aus, dass die Zukunft besetzt ist mit einer Reihe | |
von konvergierenden Bedrohungen, die auf uns zukommen. Also zum Beispiel | |
eine Bedrohung wie die demografische Entwicklung, eine Bedrohung wie die | |
Begrenztheit der Ressourcen, eine Bedrohung durch den Klimawandels und so | |
weiter. Da haben wir gar keine Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft, | |
sondern wir haben Überlebensprobleme. | |
Und wie gehen wir heute mit der Vergangenheit um? | |
Ich glaube ich, dass wir Vergangenheit gar nicht mehr hinter uns lassen, | |
sondern dass wir von Vergangenheit eigentlich überschwemmt sind. Wir leben | |
in einer Kultur der Gedenktage, jeder Tag ist ein Gedenktag, wenn Sie auf | |
die FAZ.net-Webseite gehen, da können Sie sich jeden Tag ein kleines | |
Filmchen für jeden Tag in der Geschichte vorspielen. Wir kommen aus der | |
Vergangenheit nicht mehr heraus. | |
Und das trifft nicht nur auf Deutschland zu, das trifft auch in ganz | |
ähnlicher Weise auf die USA zu. Das ist zum Teil die von mir nicht geteilte | |
Enttäuschung über Obama zum Beispiel, der in seinem ersten Wahlkampfjahr ja | |
die Möglichkeit der Gestaltung der Zukunft – „Yes, we can“ – sehr stark | |
evoziert und provoziert hat und dann in den ersten 4 Jahren seiner | |
Legislaturperiode jemand war, der Politik sozusagen im Sinn von maximaler | |
Schadensbegrenzung betrieben hat. Und vielleicht geht das auch gar nicht | |
anders. | |
Die Erfahrung der blockierten Zukunft enthüllen Sie schließlich als latente | |
Transformation der alten Zeitordnung zu einer neuen, in der wir jetzt | |
leben. | |
Die These des Buches heißt ja letztlich, dass diese Erwartung, dass eine | |
Durcharbeitung der Vergangenheit einen befreit für die Gestaltung der | |
Zukunft, dass das die Erwartung eines alten Chronotopen, einer Konstruktion | |
von Zeitlichkeit war, die gar nicht mehr unsere ist. Und dass wir | |
möglicherweise schon seit der Mitte des Jahrhunderts unter anderen | |
chronotopischen Bedingungen gelebt haben. So dass wir beständig versucht | |
haben wie so eine Pawlow’sche Ratte im Käfig, uns in einer Weise zu | |
befreien, die als Befreiungsethos, als Befreiungsmöglichkeit gar nicht mehr | |
gegeben war. Also wenn Sie wollen, eine verlorene Generation. | |
Sie sind Professor für Komparatistik an der Stanford University, Ihr Buch | |
besteht zu großen Teilen aus literarischen Textbespielen zur | |
Nachkriegsgeschichte. Weshalb ist Literatur und vor allem „Warten auf | |
Godot“ von Samuel Beckett für diese Geschichte so wichtig? | |
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass literarische Texte eine Qualität | |
haben, die nur selten erwähnt wird, nämlich die historischen Situationen, | |
historische Stimmungen sehr intensiv zu absorbieren, um sie dann wieder | |
abstrahlen zu können. In dem Sinn ist dieses neue Buch „Nach 1945“ zwar | |
kein literaturwissenschaftliches Buch und schon gar nicht | |
Literaturgeschichte, aber es ist ein Buch, was Literatur voraussetzt und | |
mit dieser Möglichkeit arbeitet. Und dieser Text von Beckett hat für mich | |
all die Motive absorbiert, die für mich entscheidend in der Darstellung | |
dieser unmittelbaren Nachkriegszeit sind. | |
Emblematisch sind die letzten Wörter in „Godot“, als die beiden | |
Protagonisten sagen „Zieh dir die Hose hoch“ und „wir gehen jetzt“. Bec… | |
sagt: „Sie laufen, aber legen keinen Weg zurück“; „they walk, but do not | |
advance.“ Und das scheint mir die kompakteste denkbare Zusammenfassung der | |
Nachkriegsgeschichte zu sein. Aber dann auch das Warten auf Godot, das | |
beständige Warten, das Offensein für die Ankunft von etwas, was sich im | |
Leben meiner Generation nie eingestellt hat. Sie haben völlig recht, der | |
zentrale Bezugstext für mich im historischen Sinn ist Becketts „Warten auf | |
Godot“. | |
Ihr Buch ist auch ein Bekenntnis – und eine Bekehrung? – zu den USA; | |
schließlich sind Sie heute amerikanischer Staatsbürger. Worauf gründet sich | |
diese Liebe zu Amerika und den Amerikanern? | |
Ich glaube für mich und nicht wenige in meiner Generation gibt es schon | |
sehr früh eine vorreflexive positive Einstellung zu den Vereinigten | |
Staaten. Und dann – das hat Jürgen Habermas mal so formuliert – bin ich | |
sozusagen ein junges Mitglied der Generation der Reeducation. Ich denke, | |
dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal in seiner | |
Geschichte zu einem demokratischen Land, geradezu zu einem vorbildlichen | |
demokratischen Land geworden ist. Und das hat sehr viel mit dieser aktiven | |
Reeducation durch die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun, auch | |
wenn man das heute, das muss auch mal gesagt werden, in Deutschland nicht | |
mehr sehr gerne hört. | |
17 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Elke Dauk | |
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