# taz.de -- Neues Buch von Peter Sloterdijk: Der Zweit-Abfluss des Philosophen | |
> „Nach Gott“, der neue Sloterdijk-Band beim Suhrkamp Verlag, enthält nur | |
> einen neuen Text. Die anderen elf Texte sind Nachdrucke. | |
Bild: Ihm fällt nicht mehr viel Neues ein: Peter Sloterdijk | |
Die überschaubare Sloterdijk-Gemeinde sollte ihre Vorfreude auf den „neuen | |
Sloterdijk“ zügeln. Was eben unter dem Titel „Nach Gott“ das | |
Suhrkamp-Röhrensystem verlassen hat, entspricht dem, was Sloterdijk in | |
anderem Zusammenhang einen „Zweit-Abfluss“ nennt: Bei den 12 Texten in der | |
Buchbindersynthese des Verlags handelt es sich um Übernahmen von sechs | |
Kapiteln aus früheren Büchern Sloterdijks und Nachdrucken von Vorträgen und | |
Vorwörtern des Autors, die ebenfalls anderswo schon gedruckt vorliegen. | |
Neu ist genau ein Beitrag und der handelt von der Ersetzung der Götter | |
zuerst durch menschliche Intelligenz und schließlich durch | |
Maschinenintelligenz. Das entspricht dem Dreischritt von Schreiben, | |
Drucken, Nachdrucken. | |
Was die Maschinenintelligenz betrifft, vertraut Sloterdijk auf die | |
Spekulationen des Philosophen Gotthard Günther (1900–1984), der meinte, das | |
Subjekt gewinne aus dem, was es an Intelligenz an Maschinen abtrete, weil | |
ihm dadurch und danach „aus einer unerschöpflichen und bodenlosen | |
Innerlichkeit immer neue Kräfte der Reflexion zufließen“. Beim Nachdrucken | |
geht es profaner zu und her. | |
Sloterdijk lässt zum Beispiel das rund 70 Seiten umfassende siebte Kapitel | |
aus dem ersten der drei Bände seines über 2.500 Seiten langen | |
„Sphären“-Gemurmels über „Blasen, Globen und Schäume“ nachdrucken. S… | |
man den Autor kennt, wäre es ein Wunder, wenn er – im Luther-Jahr – nicht | |
auch ein älteres Sendschreiben gegen den Reformator gefunden hätte und | |
natürlich auch einen Text darüber, wovon nun alle reden – vom Klima und von | |
Klimapolitik. Für Fernsehphilosophen werden Themen desto dringlicher, je | |
weniger sie davon verstehen. | |
## Heuchelei gehört zur Grundausstattung des Menschen | |
Im Anschluss an ein paar Antiquitäten der „philosophischen Anthropologie“, | |
die zu wissen vorgibt, was „der“ Mensch und „das“ Menschsein bedeuten, | |
fasst Sloterdijk den Menschen als „das Tier, das so tut als ob“. Deshalb | |
gehört für Sloterdijk Heuchelei zur konstitutiven Grundausstattung des | |
Subjekts, das immer auch Schauspieler ist gegenüber der doppelten | |
Dauerbeobachtung – erstens durch sich selbst und zweitens „von oben“ – … | |
überweltlichen Gott. Die Selbstbeobachtung führt „fast unvermeidlich ins | |
Elend der Selbstverwerfung“. Welt- und Lebensverneinung gehören deshalb zu | |
den charakteristischen Bestandteilen aller Religionen. | |
In Luthers Thesen von 1517 sieht der Philosoph aus Karlsruhe „summa | |
summarum nichts anderes als eifernd, aus historischer Distanz betrachtet, | |
haarspalterische Einlassungen zu Fragen der äußerlichen und innerlichen | |
Buß-Verwaltung“. Der pauschalen Reduktionsformel „nichts anderes als“ | |
begegnet der Leser in diesem Buch auf Schritt und Tritt. Heuchelei bildet | |
das Zentrum der Reformation, weil der busfertige Sünder vom bloßen Heuchler | |
nicht zu unterscheiden ist. | |
Nach der Auseinandersetzung mit dem regressiven Luthertum verweist | |
Sloterdijk auf dessen progressive Folgen in Philosophie, Literatur und | |
Musik von Leibniz, Lessing und Kant bis zu Hegel und Bach. Im | |
Protestantismus der Gegenwart lockerte sich die Dauerbeobachtung von oben. | |
An deren Stelle trat „das massenhafte Streben nach horizontaler | |
Aufmerksamkeit“ und damit „ein Aufstand der Massenkultur gegen die | |
Hochkultur“, den Sloterdijk in Nietzsches Manier als „Feldzug der | |
Unzufriedenen gegen die ‚Eliten‘ “ zurechtredet. | |
## Das schreckliche Kind Jesus | |
Schlechter als Luther ergeht es nur Jesus und den Evangelisten. Jesus | |
avanciert zum „schrecklichsten Kind der Weltgeschichte“, und seine Jünger | |
bilden eine eltern-, familien-, berufs- und kinderlose sowie | |
verantwortungslos dichtende „Wanderkommune“ – das „Filiarchat“, die | |
Keimform der „Ekklesial-Aristokratie“. | |
Im Kapitel „Epochen der Beseelung“ rechnet Sloterdijk mit der Psychoanalyse | |
und anderen Formen der Psychotherapie ab. Sie sind für ihn „ihrem Wesen | |
nach“ Praktiken „nachholender Beseelung“, die dem Patienten und seiner in | |
der Vergangenheit verkorksten Seele eine bessere Zukunft im „gelobten Land“ | |
versprechen wie einst Moses den Israeliten ihr Kanaan. Mit solchen | |
geistreichelnden Kalauern redet sich Sloterdijk auf und ab durch die Welt – | |
und Religionsgeschichte. | |
Mit dem programmatisch zu verstehenden Titel „Nach Gott“ will er das | |
metaphysische Dreieck Gott, Welt, Seele zur Explosion bringen, aber | |
gleichzeitig „die Seele vom Weltzwang“ befreien, wie es in einem besonders | |
dunklen Vorwort zu Sloterdijks „Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis von der | |
Spätantike bis zur Gegenwart“ heißt (erschienen in einem auf Okkultes | |
spezialisierten Verlag). | |
Als eine Epoche der Beseelung gilt ihm auch die Aufklärung mit ihrem „Ideal | |
der Mündigkeit“. Dabei tritt er allerdings in die Falle der | |
vulgär-etymologischen Scharlatanerie. Er führt das Wort „Mündigkeit“ auf | |
„Mund“ zurück und spricht von Mündigkeit als dem „Phantasma der in die | |
politische Sphäre verlängerten Oralität“ beziehungsweise vom „oralen | |
Substantialismus.“ Er folgt damit seinem Lehrmeister Heidegger, dem Ernst | |
Bloch einmal unterstellte, er würde in seinem etymologischen Furor wohl | |
auch das Wort „ Rose“ vom „Gerösteten“ herleiten. | |
## Mündigkeit ist kein Synonym für Großsprecherei | |
Mit dem Wort „Mund“ als Gesichtsöffnung haben die Wörter „Vormund“ od… | |
„mundtot“ wie auch der aufklärerische Begriff „Mündigkeit“ gar nichts… | |
tun. Im Mittel- und Althochdeutschen meinte „munt“ nicht Mund, sondern | |
„Hand“ und „Schutz“; „mündig“ bedeutet demnach „fähig, sich sel… | |
schützen und rechtlich zu vertreten“. Das Gegenteil war „mundtot“, also | |
„unfähig, Rechtshandlungen auszuführen“, und nicht etwa „zum Schweigen | |
bringen“, wie der heutige Ausdruck, „jemanden mundtot machen“, suggeriert. | |
Sloterdijks Versuch, „Mündigkeit“, den zentralen Begriff der Aufklärung, | |
ein Synonym für Autonomie und Selbstbestimmung, als orale | |
Selbstüberschätzung und Großsprecherei zu denunzieren, ist ein Schlag ins | |
Wasser. Die Spekulationen über den Zusammenhang der „oralen Schicksale des | |
Menschen mit dem Weltlauf moderner Epochen“ sind – ganz ohne „drittes Ohr… | |
des „psychoanalytisch trainierten Lesers“ (Sloterdijk über sich selbst) – | |
als substanzloses Geklingel zu erkennen wie über weite Strecken das ganze | |
Buch. | |
13 Jul 2017 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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