| # taz.de -- Danielle Allens Adorno-Vorlesungen: Die Brückenbauerin | |
| > Die Harvard-Professorin Allen spricht in Frankfurt über politische, | |
| > soziale und ökonomische Gleichheit – und über ihren Bezug zur Demokratie. | |
| Bild: Danielle Allen lehrt klassische Sprachen und Politikwissenschaft an der H… | |
| Zum 15. Mal fanden letzte Woche die vom Frankfurter Institut für | |
| Sozialforschung und dem Suhrkamp Verlag getragenen Adorno-Vorlesungen | |
| statt. Diese Vorlesungen widmen sich nicht affirmativ-schulbildender | |
| Adorno-Exegese, sondern sollen die heutigen Möglichkeiten kritischer | |
| Gesellschaftstheorie ausloten. Die Wahl der diesjährigen Referentin war ein | |
| Glücksfall. | |
| Danielle Allen, 1971 geborene Professorin, lehrt klassische Sprachen und | |
| Politikwissenschaft an der Harvard University und referierte in Frankfurt | |
| an drei Abenden über Aspekte „politischer Gleichheit“. In der ersten | |
| Vorlesung widmete sie sich der Differenz zwischen positiver und negativer | |
| Freiheit, also dem Unterschied zwischen der „Freiheit zu etwas“ und | |
| „Freiheit von etwas“. | |
| Bespiele positiver Freiheit sind die Meinungsfreiheit und die | |
| Pressefreiheit, während negative Freiheit die Abwesenheit von Zwang oder | |
| Gewalt in Religions- beziehungsweise Glaubensfragen meint. | |
| Als schwarze Amerikanerin und Wissenschaftlerin wurde sie früh aufmerksam | |
| auf das große Gefälle zwischen den Diskursen über Freiheit und jenen über | |
| Gleichheit. Dieses Gefälle ist selbst in der intellektuell anspruchsvollen | |
| „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) von John Rawls mit Händen zu greifen. | |
| Ökonomische und soziale Gleichheit sind für Rawls nur nachrangig, | |
| „grundlegend“ dagegen ist für ihn „die Gleichheit bezüglich der Achtung, | |
| die Menschen unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung zukommt“. | |
| ## Niedergang des „sozialen Kapitals“ | |
| Entsprechend wenig Platz räumt Rawls in seiner Gerechtigkeitstheorie der | |
| Gleichheit in politischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht ein. Danielle | |
| Allen rüttelt nicht am berechtigten Vorrang von Grundrechten und Freiheiten | |
| des Individuums, den Rawls begründet, möchte aber der Chancengleichheit in | |
| sozialen und wirtschaftlichen Belangen mehr Bedeutung zumessen. Denn „zu | |
| viel Ungleichheit bedroht die Demokratie“ (Allen). | |
| Was bedeutet soziale Gleichheit in einer durch starke soziale Beziehungen | |
| geprägten Gesellschaft? Danielle Allen bezeichnet eine solche Gesellschaft | |
| als „gekoppelte Gesellschaft“ („connected society“; „connected“ ver… | |
| sie synonym mit „demokratisch“ und „egalitär“). | |
| Die „connected society“ steht im Gegensatz zu einer Gesellschaft | |
| atomisierter Individuen, wie sie der Soziologe Robert Putnam in seinem Buch | |
| „Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community“ (2000) | |
| beschrieben hat. Er diagnostizierte darin einen Niedergang des „sozialen | |
| Kapitals“ in den USA, also einen Verlust an sozialen Beziehungen und | |
| Bindungen mangels aktiver Teilhabe an zivilgesellschaftlichen Aktivitäten | |
| in Vereinen, Clubs, Parteien, Nachbarschaft et cetera. | |
| Gesellschaftlichen Institutionen wie der Schule oder Sportvereinen fällt | |
| die doppelte Aufgabe zu, zwischen den unterschiedlichen, voneinander | |
| abgegrenzten Gruppen der Gesellschaft einen überbrückenden sozialen | |
| Zusammenhalt zu stiften. Je mehr sozial übergreifende soziale Beziehungen | |
| beziehungsweise „Brücken“ in einer Gesellschaft existieren, desto | |
| demokratischer und egalitärer ist sie. | |
| ## Differenzen aushalten | |
| Eine Voraussetzung für die Herstellung eines soziale Schichten und Gruppen | |
| übergreifenden Beziehungsgeflechts in einer Gesellschaft besteht darin, | |
| dass sich die verschiedenen sozialen Gruppen zuvor ihrer Eigenarten und | |
| Interessen bewusst werden und eine Gruppenidentität aufbauen müssen. | |
| Nur durch die Überbrückung von Unterschieden zwischen sozialen Gruppen, | |
| Klassen und Milieus, die sich zuvor ihrer selbst bewusst geworden sind und | |
| die ihre Unterschiedlichkeit leben können, ist ein gesellschaftlicher | |
| Zusammenhalt ohne Assimilationsdruck, Repression und Ausgrenzung möglich. | |
| Im Gegensatz zu Putnam sieht Allen keinen Zielkonflikt zwischen wachsenden | |
| Differenzen in der Gesellschaft und sozialem Zusammenhalt. Vielmehr ginge | |
| es darum, dass Individuen und Politik lernen, sich in „Brücken-Kulturen“ zu | |
| bewegen und Differenzen auszuhalten. | |
| Etwas vage blieb Danielle Allen bei der Darstellung ökonomischer | |
| Gleichheit, die für sie kein Ziel, sondern Mittel zur Stärkung des | |
| Einzelnen wie der demokratisch-egalitären Strukturen ist. Als Hebel zur | |
| Stärkung ökonomischer Strukturen dienen Recht und Erziehung und der Umbau | |
| rein ökonomisch verstandener Tauschbeziehungen in soziale Beziehungen. | |
| Ob damit den Ungleichheit fördernden Marktdynamiken mit wachsenden | |
| Asymmetrien von Vermögens- und Einkommensverhältnissen beizukommen ist, | |
| darf man bezweifeln. Es bleibt jedoch verdienstvoll, dass die Philosophin, | |
| das von Ökonomen gemiedene Gebiet von materieller Gleichheit/Ungleichheit | |
| überhaupt zur Debatte stellt. | |
| 26 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Rudolf Walther | |
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