| # taz.de -- Roman „Homeland Elegien“: Vordringen ins Herz der USA | |
| > Ayad Akhtars erzählt vom Aufwachsen in den USA als Sohn pakistanischer | |
| > Einwanderer. Sein Buch bietet virtuose, gallenbittere Amerikakritik. | |
| Bild: Von Islamfeindlichkeit nach 9/11 bis zu Donald Trump reicht der Erzählbo… | |
| „Klassisches Geschichtenerzählen“ – damit erklärt der Autor und | |
| Ich-Erzähler Ayad Akhtar einmal beim Abendessen seinem Vater Sikander den | |
| [1][Erfolg von Donald Trump]: „Je länger der Mittelteil ist, desto besser | |
| ist die Geschichte. […] Das Publikum mit einem Konflikt so lange wie | |
| möglich bei der Stange zu halten, ohne diesen Konflikt tatsächlich | |
| aufzulösen – das ist wahre Meisterschaft.“ | |
| An dieser Stelle sind die „Homeland Elegien“ schon über 400 Seiten | |
| vorangeschritten, der Mittelteil neigt sich dem Ende zu. Auch Ayad Akhtar | |
| ist ein Meister der Konfliktausdehnung, und der Streit zwischen Vater und | |
| Sohn über Donald Trump gehört unbedingt dazu. | |
| „Homeland Elegien“ beginnt beinahe komödiantisch damit, wie Vater Akhtar, | |
| ein renommierter Kardiologe, den derzeitigen Präsidenten der USA | |
| kennenlernte, „als beide Mitte vierzig waren […] und nach einem | |
| finanziellen Ruin wieder auf die Beine kamen“. Trump, der nach einem seiner | |
| Bankrottgänge eine Herzrhythmusstörung entwickelt hatte, wurde damals an | |
| den Spezialisten Akhtar überwiesen. | |
| Nachdem er den Arzt einmal versetzt hat, gewinnt er ihn in einem Telefonat | |
| für sich, indem er respektvoll nach der Aussprache seines pakistanischen | |
| Namens fragt und sich – it must be fiction! – für den geplatzten Termin | |
| entschuldigt. Doch es ist mehr als dieses nächtliche Gespräch, das Vater | |
| Akhtar und Trump verbindet – und den Arzt auch Jahre später zum Entsetzen | |
| des Sohns dem republikanischen Outsiderkandidaten seine Stimme geben lässt. | |
| ## Einwandererkind und Einheimischer | |
| Mit seinem zweiten Roman, „Homeland Elegien“, erzählt Ayad Akhtar die | |
| [2][US-amerikanische Geschichte der letzten Jahrzehnte] noch einmal neu als | |
| seine eigene. Es ist eine virtuose, gallenbittere Amerikakritik aus der | |
| Perspektive des Sohns pakistanischer Einwanderer, der jedoch nicht den | |
| geringsten Zweifel daran lässt, dass er selbst ein Einheimischer ist. | |
| Er will vordringen zu [3][jenem Kern der USA], den er seine ehemalige | |
| Collegedozentin Mary Moroni in einer „Ouvertüre“ verraten lässt: Amerika | |
| habe als Kolonialmacht begonnen und sei es bis heute geblieben, definiert | |
| durch Plünderung, „ein Ort, wo Bereicherung vorrangig und die bürgerliche | |
| Ordnung nur ein Nebengedanke sei“. | |
| Obwohl Akhtar vor allem der „Wunsch, sich zu erinnern“, treibt, sei sein | |
| Roman aber noch lange nicht autobiografisch: „Ich gehöre zu den | |
| Schriftstellern, die Tatsachen verdrehen müssen, um sie desto deutlicher | |
| sehen zu können.“ | |
| Ayad Akhtar, geboren 1970 in New York, wuchs in Wisconsin auf. Während der | |
| Vater, ein begeisterter Neuamerikaner, in den Reagan-Jahren sein erstes | |
| Vermögen scheffelte und wieder verlor, lebte seine Mutter mit halbem Herzen | |
| weiter in der alten Heimat – auch weil sie wohl lieber den religiösen Latif | |
| geheiratet hätte, der dort als Arzt die Mudschaheddin im Afghanistankrieg | |
| unterstützte. | |
| ## Hybrid aus Essay, Fiction und Memoir | |
| Die widersprüchlichen Haltungen der Eltern prägen auch den Sohn, spiegeln | |
| sich noch in der Romanform wider: Erzählerisch sind die „Homeland Elegien“ | |
| ein irritierend unterhaltsamer Hybrid aus Essay, Fiction und Memoir, von | |
| dem aus Akhtar immer wieder abschweift, sei es zu Blasphemie im Islam, | |
| Theorien der Deregulierung oder dem Zustand amerikanischer Universitäten. | |
| Der Materialismus des Vaters und die spirituelle Verwurzelung der Mutter in | |
| der muslimisch-indischen Kultur wiederholen sich in Akthars Leben – und in | |
| seiner Kunst, von der er allerdings erst nach einer langen Durststrecke | |
| während der Nullerjahre leben kann. Sein Broadway-Erfolgsstück, „Disgraced�… | |
| (die Übersetzung „Geächtet“ lief auch auf vielen deutschsprachigen Bühne… | |
| spielt im liberalen New Yorker Bürgertum, wo sich gut verdienende Menschen | |
| unterschiedlicher Hautfarbe und Religion auf den ersten Blick bestens | |
| verstehen. | |
| Doch die Fassade bröckelt, bis der Protagonist, der topintegrierte Anwalt | |
| Amir, irgendwann zugibt, am 11. September sogar Stolz auf die Angreifer | |
| empfunden zu haben. Im Roman führt Ayad Akhtar diese Reaktion auf seine | |
| Mutter zurück: eine Gelegenheit, weit in die (post-)koloniale Geschichte | |
| Pakistans auszuholen. | |
| Gleichzeitig grenzt er sich deutlich von der traditionellen muslimischen | |
| Kulturkritik an den USA ab. Die offenen Diskriminierungen, denen er | |
| aufgrund von Namen und Hautfarbe nach 9/11 ausgesetzt ist, wiegen jedoch | |
| schwer: Direkt nach den Anschlägen bedroht ihn ein [4][White Supremacist] | |
| in der Schlange zum Blutspenden so heftig, dass der Erzähler sich | |
| buchstäblich in die Hosen macht; 2010 überweist [5][ihn ein rassistischer | |
| Polizist] an seinen Cousin, einen betrügerischen Kfz-Mechaniker, der Akhtar | |
| Tausende von Dollar aus den leeren Taschen zieht. | |
| Drei Jahre später sind Akthars Taschen voll. Zum einen, weil er nach der | |
| Auszeichnung mit dem Pulitzerpreis für „Disgraced“ gut im Geschäft ist. Z… | |
| anderen, weil er kurz zuvor die Bekanntschaft des muslimischen | |
| Hedgefondsmanager Riaz gemacht hat – und mit seiner eigenen Gier. Riaz | |
| zieht ihn von der Seite der Schuldknechte auf die der Schuldenhändler: Ein | |
| entscheidender Anlagetipp für das Geld, das ihm seine gerade gestorbene | |
| Mutter vererbt hat, füllt schon bald Akhtars Kasse. | |
| Aber vielleicht ist Riaz, der am liebsten 15.000-Dollar-Whiskeys trinkt, | |
| auch nur ein fiktiver Anlass für Kapitalismuskritik im Geist David | |
| Graebers: | |
| „Was jetzt wuchs, waren nicht Gemeinden oder Wirtschaften, sondern das | |
| Kapital selbst […]. Schulden definierten gesellschaftliche Realitäten, sie | |
| beeinflussten oder erzwangen Entscheidungen, die das Leben der meisten | |
| Zeitgenossen betrafen: den Wohnraum, die Gesundheit, die Ausbildung und die | |
| Zukunftsaussichten der Kinder und seit Neuestem auch […] den Zugang zu den | |
| Apparaten, die den Löwenanteil unserer Wahrnehmung ermöglichten.“ | |
| Auch der schwarze Hollywoodagent Mike, mit dem Akhtar sich nach dem | |
| Broadway-Erfolg zum Essen verabredet, gehört einer Minderheit an, deren | |
| Aufstieg im US-Kapitalismus nicht wirklich vorgesehen ist: Die | |
| Konzernautokratie, zu der sich (nicht nur) die USA entwickelt hat, ist | |
| weiß. | |
| ## Gesellschaftsanalyse zwischen Politik und Kunst | |
| Mittlerweile, meint Mike, beute sie aber Schwarze und Weiße gleichermaßen | |
| aus, daran habe auch Obama, den er nicht gewählt hat, nichts geändert. | |
| Zyniker wie Riaz und Mike akzeptieren deshalb das System als unzerstörbar, | |
| sind seine radikalen Apologeten geworden. | |
| Das großartige, überaus finstere Kapitel „Pottersville“, in dem Akhtar die | |
| Geschichte von Mikes Vater, der die Deregulierungspolitik Robert Borks | |
| umsetzte, elegant mit nächtlichen Beobachtungen zu Frank Capras | |
| Kultweihnachtsfilm „Ist das Leben nicht schön?“ (1946) verbindet, endet | |
| desillusioniert an einem grauen New Yorker Morgen: „Ich würde neue Worte, | |
| eine neue Sprache finden müssen, kältere Klänge und Bedeutungen.“ | |
| Ob Ayad Akhtar wirklich, wie er hier behauptet, aufgehört hat, auf sein | |
| hoffnungsvolles Herz zu hören? Oder ist das nur wieder eine der | |
| Verdrehungen, die die Wahrheit umso schärfer zeigen sollen? Seine | |
| mitreißend zwischen allen Seiten der divided nation hin und her wechselnde | |
| Gesellschaftsanalyse endet jedenfalls auf einem Podium seiner alten | |
| Universität mit einem Gespräch über Politik und Kunst – und einem trotzigen | |
| Bekenntnis zur Heimat Amerika. | |
| 13 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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