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# taz.de -- Glaude über Rassismus in den USA: „Dieses Land lügt sich an“
> Der Afroamerikanist Eddie Glaude bezeichnet die USA als schrecklich
> segregierte Gesellschaft. Es gebe eine Expansion von schwarzer Armut.
Bild: Bei den Black-Lives-Matter-Protesten am 15. Juli 2020 in New York
Gerade vor ein paar Wochen ist Eddie Glaudes Buch „Begin Again“ in den USA
erschienen – eine Auseinandersetzung mit James Baldwin, dem Schriftsteller
und Vordenker gegen Rassismus und Homophobie. Baldwins frühe Romane waren
Bestseller. Als er sich politisch radikalisierte und den intellektuellen
Spagat zwischen Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung und Black Power
machte, gingen einige Linksliberale auf Distanz. Für junge und alte
Black-Lives-Matter-Aktivist:innen ist Baldwin weiterhin ein Visionär.
taz am wochenende: Herr Glaude, wie hat sich das Leben für schwarze
Intellektuelle in diesem Land seit James Baldwin verändert?
Eddie Glaude: Das muss man konkret beschreiben. Ich selbst bin ein Beispiel
für den Fortschritt bis zu einem gewissen Grad. Mein Vater hätte nicht nach
Princeton gehen können. Ich bin dort ein Professor mit Lehrstuhl. Aber es
gibt weiterhin zwei Welten. Amerika ist eine schrecklich segregierte
Gesellschaft.
Wo zeigt sich das?
Da, wo wir leben. Die Wohnungssegregation grassiert, wir leben nicht
wirklich miteinander. Und das beeinflusst die Schulen. Unsere Schulen
werden aus Grundsteuern finanziert. Da der Wert von schwarzen und braunen
Wohnbezirken oft niedriger ist, sind dort auch die Grundsteuern niedriger.
Das führt dazu, dass für die Schulen weniger Geld vorhanden ist. Viele
unserer Schulen sind unterfinanziert.
Sind die Versuche zur Abschaffung der Segregation gescheitert?
Viele politische Versuche, die systemischen Formen von Rassenungleichheit
abzuschaffen, haben nicht funktioniert. Die große Rezession von 2007 und
2008 hat Afroamerikaner unverhältnismäßig stark getroffen. Viele von uns
haben ihre Häuser verloren. Einen derart massiven Wohlstandverlust hat die
schwarze Community seit dem 19. Jahrhundert nicht erlebt.
Zugleich gibt es mehr schwarze Intellektuelle und Politiker.
Die Abschaffung der förmlichen Strukturen von weißer Vorherrschaft im Süden
hat zu einer Öffnung von Universitäten und anderen zuvor mehrheitlich
weißen Institutionen im Land geführt. Und zu der Expansion einer schwarzen
Mittel- und Oberschicht. Ein paar von uns haben den Zugang zum Mainstream
des amerikanischen Lebens und zu den Korridoren der Macht geschafft. Aber
zugleich gibt es eine Expansion von schwarzer Armut – was in den 80ern die
„schwarze Unterschicht“ (Black Underclass) genannt wurde. Die Verzweiflung
hat sich vertieft. Wir haben jede Menge schwarze und braune Leute, die in
ressourcenschwachen Wohngegenden gefangen sind, wo die Institutionen nicht
funktionieren. Da ist eine große Spaltung zwischen den Klassen.
Wo verlaufen die Trennlinien in der US-Gesellschaft?
Die echte Trennlinie in Amerikas Geschichte sind der Wertegraben und die
Lügen, die wir uns erzählen. Der Wertegraben liegt auch der Leistungskluft
und dem Wohlstandsgefälle zugrunde.
Was meinen Sie mit Wertegraben?
In Amerika existiert der Glaube, dass weiße Leute mehr zählen als andere.
Er zeigt sich in unserer Gesinnung, in unserer sozialen Praxis, in unserer
Politik und in unseren ökonomischen Beziehungen. Die unterschiedliche
Wertschätzung von weißen Leben beeinflusst die Verteilung von Vorteilen und
Nachteilen. Im Laufe der Geschichte hat der Wertegraben unterschiedlich
ausgesehen. Aber wenn wir uns ansehen, wie Amerika organisiert ist, wie
unsere Gemeinschaften getrennt sind, wie unsere Kinder unterrichtet werden,
wie unsere Banken über Kredite entscheiden und wie unsere Krankenhäuser
Dienstleistungen vergeben, dann sehen wir die entscheidende Rolle, die der
Wertegraben und die Rasse in jedem Aspekt in der amerikanischer
Gesellschaft spielen.
Wie definieren Sie das Wort „Rasse“?
Es ist schwer zu definieren. Es ist ein Weg – ein Wort –, um Unterschiede
zwischen Menschen zu markieren. Es gibt eine unterschiedliche Werteskala,
je nachdem ob jemand als weiß wahrgenommen wird oder nicht.
Wie unterscheidet sich der Rassismus in den USA von anderen Ländern?
Jedes Land hat seine eigene Geschichte. In den USA müssen wir uns mit der
Realität unserer besonderen Form von Sklaverei auseinandersetzen.
Die Sklaverei in den heutigen USA war von Europäern organisiert.
Aber im Jahr 1808, als der transatlantische Sklavenhandel zu Ende ging,
waren die USA seit 32 Jahren unabhängig. Anschließend haben sie ihre
eigenen Zwangsarbeiter für den inländischen Sklavenmarkt gezüchtet. Wir
haben die Gebärmütter von schwarzen Frauen zur Kapitalakkumulation genutzt.
Diese unverwechselbare Art, in der das Land entstanden ist, hat seine
Ökonomie und seine sozialen Beziehungen geprägt.
Sie nennen Baldwin in Ihrem Buch „Jimmy“. Was fasziniert Sie an ihm?
Er hat die Fähigkeit, die inhärenten Widersprüche der amerikanischen
Demokratie zu beschreiben. Er ist der wichtigste Kritiker von Rasse und
Demokratie, den das Land produziert hat. Er zeigt Charakter und Mut im
Angesicht des Bösen. Seine Fähigkeit, zugleich Wut und Liebe auszudrücken
und gleichzeitig verletzlich und wahnsinnig mutig zu sein – das zieht mich
an.
In „Begin Again“ geht es nicht nur um Baldwins USA. Es ist auch eine
scharfe Auseinandersetzung mit Ihrem Land im gegenwärtigen Moment. Würde
Ihr Buch ohne Donald Trump existieren?
Es wäre auf jeden Fall ganz anders geworden. Ich musste dieses Buch
schreiben, weil wir wieder einmal erlebt haben, wie das Land seine Ideen
verraten hat – im Namen von einem gewissen Verständnis von Amerika als
weiß. Weiße Leute sind uns erneut in den Rücken gefallen. Weiße
Ressentiments, weiße Klagen und weiße Angst haben 2016 die Wahl für Donald
Trump entschieden.
Jedes Schulkind in den USA lernt, dass die USA ein Leuchtturm von Freiheit
und Demokratie sind.
Der Mythos von der amerikanischen Größe dient dazu, unseren Blick
abzulenken. Amerika versteckt sich hinter der Illusion seiner Unschuld,
seiner sogenannten Größe. In Wirklichkeit sind seine Hände blutig. Dieses
Land lügt sich selber an, um seine Sünde zu verstecken. In den acht Jahren
mit unserem ersten schwarzen Präsidenten haben wir den Hass, das Gift und
die Ressentiments erlebt. Trotzdem dachte ich nicht, dass das Land
jemanden, der so offensichtlich unqualifiziert ist wie Donald Trump, zum
Präsidenten wählen würde.
Was können Aktivisten im Jahr 2020 von Baldwin lernen?
Die Wahrheit zu sagen und Zeugnis abzulegen. Und eine Welt auszudenken, in
der die Farbe der Haut, die Postleitzahl, die körperlichen Fähigkeiten und
wen man liebt keine Rolle spielen. Nicht auf einfache Antworten
hereinzufallen. Nicht in die Falle von Identitätspolitik zu tappen.
Das klingt gut. Aber diese Verlangen gab es auch schon in der
Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre. Trotzdem ist wieder ein Rückschlag
gekommen. Was ist nötig, um die Konfrontationen zwischen Schwarz und Weiß
zu beenden?
Die abstrakte Antwort ist, dass das Land erwachsen werden muss. Es muss
seine Windeln abstreifen. Es muss sich selbst eine bessere Geschichte
darüber erzählen, was es getan hat und weiterhin tut. Aber die direkte
Antwort ist vermutlich, dass jene von uns, die ein gerechteres Amerika
wollen, alles riskieren müssen. Wir müssen aufhören, eine Generation nach
der anderen zu verlieren. Jetzt sieht mein Sohn, wie schwarze und braune
Kids von der Polizei getötet worden. Ich musste da durch. Mein Vater musste
da durch. Sein Vater musste da durch. Ich möchte nicht, dass eine weitere
Generation von schwarzen und braunen Kids mit dieser schrecklichen
Erfahrung dieses Rituals von Erleben und Leiden aufwächst.
Manche schöpfen Hoffnung daraus, dass dieses Mal mehr Weiße in der
Black-Lives-Matter-Bewegung aktiv sind als in der Bürgerrechtsbewegung der
60er Jahre. Wie sehen Sie das?
Es gibt eine gewisse Bewegung, die mit der ökonomischen Realität zu tun
hat. Die Pandemie hat in den USA zu mehr als 200.000 Toten und zu einer
ökonomischen Destabilisierung geführt. Wir haben ein paar Prozent, die in
der Pandemie reicher geworden sind. Aber gleichzeitig haben wir in dem
angeblich großartigsten Land in der Geschichte der Welt lange Schlangen vor
Nahrungsmittelausgaben. Das sind Menschen, die Hunger leiden – darunter
weiße, schwarze und braune. Es gibt einen Konsens darüber, dass das Land
pleite ist. Aber während Leute an Covid sterben und hart kämpfen müssen, um
über die Runden zu kommen, erleben sie weiterhin, was die Polizei braunen
und schwarzen Leuten antut. Die Realität dieses Moments ist, dass wir uns
nicht abwenden können. Das gibt eine Öffnung, um die Dinge anders zu
imaginieren. Aber es ist keine Garantie.
Bieten die Wahlen im November einen Ausweg?
Sie werden nichts regeln. Ganz egal, ob Donald Trump gewinnt oder verliert,
werden wir einen Haufen Ärger haben. Wenn er gewinnt, wird es Mutlosigkeit
und die Furcht geben, dass er die Wahlen gestohlen hat. Wenn er verliert,
wird es Leute geben, die bereit sind, gewaltsam zu handeln. Zum ersten Mal
in der Geschichte haben wir Zweifel an der friedlichen Weitergabe der
Macht. Wir müssen uns auf eine Intensivierung des Konflikts nach der Wahl
einstellen. Zugleich ist klar, dass Donald Trump nicht nur das Problem ist.
Er ist auch ein Symptom des Problems. Er wurde von einer Schar
amerikanischer Politiker gestützt. Wir brauchen eine radikale
Neuausrichtung darüber, wie wir zusammenleben können. Ich weiß nicht, ob
wir dazu die Courage haben. Aber der Kampf hat begonnen.
12 Oct 2020
## AUTOREN
Dorothea Hahn
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