| # taz.de -- Brit Bennett „Die verschwindende Hälfte“: Die Seiten wechseln | |
| > Die Autorin Bennett aktualisiert die Tradition einer fluiden Idendität. | |
| > Ihr neuer Roman ist eine Geschichte über Verlust, Trauer und Scham. | |
| Bild: Zuschreibungen, Spiegelungen, Zerrissenheiten – Themen von Brit Bennett… | |
| Als Eric Garner 2014 Opfer tödlicher Polizeigewalt wurde, veröffentlichte | |
| Brit Bennett den Essay „I don’t know what to do with good white people“, … | |
| dem sie die Attitüde sich als antirassistisch verstehender Weißer | |
| kritisierte, allein für diese vertretene Haltung Dank und Anerkennung | |
| Schwarzer Menschen und von PoC zu erwarten. Also auch von ihr. Es war eine | |
| politische Stellungnahme, die viel Beachtung fand. | |
| Dass ihr aktueller zweiter Roman „Die verschwindende Hälfte“ in den USA | |
| etwa eine Woche nach einem weiteren Mord durch Polizisten, dem an George | |
| Floyd, erscheinen und als das Buch der Black-Lives-Matter-Bewegung | |
| verhandelt werden würde, konnte die US-amerikanische Schriftstellerin nicht | |
| ahnen. | |
| Bereits in ihrem Debüt [1][„Die Mütter“], das im Original 2016 erschien, | |
| verschränkte sie die individuellen Lebensläufe ihrer Schwarzen | |
| Protagonist*innen mit den gesellschaftlich tief verankerten Strukturen | |
| des Rassismus in den USA. Das Buch war ein großer Erfolg, der die damals | |
| 26-Jährige von heute auf morgen bekannt machte. Auch ihr neuer Roman wurde | |
| in den USA ein Bestseller und wird als Serie auf HBO verfilmt werden. Die | |
| Kritiker*innen sehen Bennett nun gar in die Fußstapfen einer Toni Morrison | |
| und eines James Baldwin treten. | |
| ## Schwarze, die hellhäutig werden wollen | |
| Bennett erzählt die Geschichte der Zwillinge Desiree und Stella, die Ende | |
| der 1950er Jahre als Teenager aus dem kleinen Mallard abhauen, einem Ort, | |
| dessen Bewohner*innen zwar laut Gesetz Schwarze sind, aber viel Wert auf | |
| Hellhäutigkeit legen: Die Kinder sollen immer „noch lichter“ werden, wie | |
| „eine Tasse Kaffee, die man immer weiter mit Sahne verdünnt. Immer | |
| perfektere Negroes. Eine Generation hellhäutiger als die andere.“ Solche | |
| Gemeinden hat es tatsächlich gegeben, Bennett erfuhr davon durch ihre | |
| Mutter. | |
| Die Schwestern rebellieren auf je eigene Weise gegen die geltenden Regeln: | |
| Desiree heiratet „den dunkelsten Mann, den sie finden konnte“. Stella aber | |
| entscheidet sich für ein Leben als Weiße, sie wechselt die Seiten. Passing | |
| heißt das im Englischen und zahlreiche Erzählungen der nordamerikanischen | |
| Literatur, insbesondere aus dem 1920er Jahren, behandeln dieses Thema; eine | |
| literarische Tradition, in die Bennett sich hier einreiht – um sie zugleich | |
| zu erneuern. | |
| Anders als in den Klassikern des Genres wird Stella nicht enttarnt und | |
| bestraft. Ihr Preis für ein Leben in Sicherheit, Freiheit, auch Wohlstand, | |
| ist dennoch hoch: Sie schlägt die Tür zu ihrer Vergangenheit zu. Hat keinen | |
| Kontakt zu Schwester und Mutter, lebt ihrem Mann und ihrer Tochter Kennedy | |
| gegenüber in einem Geflecht aus Lügen. | |
| Bennett nutzt eine (fast) allwissende Erzählstimme, die es ihr ermöglicht, | |
| zwischen den Perspektiven ihrer verschiedenen Figuren hin und her zu | |
| wechseln. Mit ihrer Hilfe überbrückt sie auch große Zeiträume, geht zehn | |
| Jahre voran, um diese in späteren Kapiteln zurückzuspringen, um dann die | |
| Sicht einer anderen Figur zu schildern. Die erzählte Zeit erstreckt sich | |
| von den späten Dreißigern bis in die späten achtziger Jahre. | |
| ## Gefühl der Verlassenheit | |
| Das erzählerische Netz, das sie so entfaltet, verbindet die zentralen, | |
| allesamt weiblichen Figuren: Desiree und ihre Tochter Jude, Stella und ihre | |
| Tochter Kennedy. Die Autorin nimmt sich für jede von ihnen viel Raum. | |
| Eindrücklich erzählt sie von Desirees Gefühl der Verlassenheit, der nie | |
| endenden Sehnsucht nach der Schwester. Von der Flucht vor ihrem | |
| gewalttätigen Ehemann – zurück nach Mallard. Wo ihre sehr dunkelhäutige | |
| Tochter den Schikanen der Mitschüler*innen ausgesetzt ist. | |
| Ebenso einfühlsam umkreist sie die Zerrissenheit Stellas, macht ihre | |
| Ambivalenz, ihre letztlich so radikale Entscheidung nachvollziehbar – und | |
| wertet sie nicht. Stella performt ihr Weißsein, sie erlernt die dafür | |
| notwendigen gesellschaftlichen Verhaltensregeln und wird als Weiße | |
| wahrgenommen. Ihr passing legt die Konstruiertheit der Kategorie race und | |
| aller daraus abgeleiteten Kategorien bloß. | |
| Deutlich wird aber auch, dass es eine „Strategie“ ist, die diese Kategorien | |
| zugleich bestätigt. Als Ende der sechziger Jahre eine Schwarze Familie in | |
| Stellas Nachbarschaft einziehen will, protestiert sie am lautesten. Sie tut | |
| es aus Angst, denn sie muss die perfekte Weiße sein. | |
| Kunstvoll arbeitet Bennett mit Kontrasten und Spiegelungen: Aus der | |
| ursprünglichen großen Nähe der Zwillinge heraus entwirft sie zwei | |
| Lebensentwürfe, die nicht weiter entfernt voneinander sein könnten. In | |
| ihren Töchtern Jude und Kennedy, letztere blond und „weiß“, spiegeln sich | |
| die Kämpfe der Mütter eine Generation später und finden ein Echo. Die | |
| beiden werden sich kennenlernen und trotz der Gegensätze eine Art | |
| Freundschaft entwickeln. | |
| Das Motiv des gespaltenen Lebens und der Neuerfindung der eigenen Identität | |
| variiert und doppelt die Autorin in weiteren Figuren, die ebenfalls | |
| wichtige Teile des erzählerischen Netzes bilden, auch wenn ihre Rollen | |
| kleinere sind. Reese ist Judes Lebensgefährte, ein Transmann. Verbunden | |
| sind beide auch über die Verletzungen, die sie aufgrund ihrer nonkonformen | |
| Körper erfahren haben. Auch Reese hat deshalb keinen Kontakt zu seiner | |
| Familie. Ihr gemeinsamer Freund Barry wird zweimal im Monat zur Dragqueen | |
| Bianca, aber die meisten sollen davon nichts wissen. | |
| Bennetts Roman ist eine so vielschichtige wie mitreißende große Erzählung | |
| über Verlust, Trauma und Scham. Darüber, wie der Rassismus der Gesellschaft | |
| und auch andere falsche Ideen sich tief in die Individuen einschreiben. | |
| Aber Bennett erzählt auch viel über Verbindungen, Zusammenhalt und | |
| verschiedene Formen der Liebe. „Die verschwindende Hälfte“ ist auch ein | |
| hoffnungsvolles Buch. | |
| 6 Nov 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Carola Ebeling | |
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